Das Bekenntnis des Komponisten Alexander Skrjabin zu großer Emotionalität, die sich im Titel der Gedenkveranstaltung wiederspiegelt, hatte mich schon im Vorfeld neugierig auf den Konzert-Abend in der Münchner Seidlvilla gestimmt. Geladen hatte das russische Kulturzentrum MIR, anlässlich des 100. Todesjahres des Komponisten. Selbst Künstlerin, darüber hinaus mit einer Affinität zu dem, was gemeinhin als „russische Seele“ bezeichnet wird, finde ich viel von meinem eigenen Naturell in diesem Zitat wieder und glaube, dass uns Künstler oft ein drangvolles Seelenleben antreibt, sich im künstlerischen Schaffen ein Ventil zu suchen.
Dazu bedarf es nicht unbedingt eines tatsächlichen tragischen Lebenslaufes; Künstlernaturen neigen generell zu einem Dasein zwischen Brandbeschleuniger und Brennglas. Das gilt umso mehr für jemanden mit einer Vita wie der Alexander Skrjabins: Kurz, emotional überbordend und vor allem schmerzhaft, da er, wie es MIR-Chefin Tatjana Lukina formuliert, „sein ganzes Leben sehr intensiv mit dem Tod konfrontiert war“.
Seine Mutter starb, als er ein Jahr alt war, zwei von vier Kindern aus erster Ehe starben noch zu Lebzeiten des Komponisten. Schwierig gestaltete sich auch sein Liebesleben: Seine erste Ehe scheiterte, Ehefrau Wera verweigerte jedoch die Scheidung, so dass er mit seiner neuen Gefährtin, Tatjana Schloezer, eine Lebensgemeinschaft ohne Trauschein beginnen musste, ein für damalige Verhältnisse nicht gerade gesellschaftlich übliches Arrangement …
„Einmal beunruhige ich mich, ein andermal bin ich auf der Höhe der Seligkeit, in Minuten falle ich in Schwermut,“ zitiert ihn Stefan Zednik in Deutschlandradio Kultur. Er war ein Getriebener, was ihn vermutlich auch zu dem werden ließ, was Zednik einleitend als „Revolutionär einer neuen Tontechnik“ , so der Beitragstitel, beschreibt und als „… absoluter Exzentriker in der Welt der Klaviermusik. Seine Werke zählen nicht nur zu dem pianistisch anspruchsvollen, sie begeistern auch heute noch durch ihre Emotionalität, ihre Radikalität, ihre Wucht.“
Folgerichtig erwartete mich in der Seidlvilla ein konzertantes Wechselbad an Gefühlen und Klangerlebnissen. Die Musik zu Beginn des Abends entstammte Skrjabins früher Schaffensphase, sehnsuchtsvolle Klänge, die mich an Chopin erinnerten, was an Skrjabins Frühwerk gelegentlich kritisiert wird. Entschieden dagegen hält der kanadische Pianist Glenn Gould: „… ist es dem edlen Frédéric auch nur ein einziges Mal gelungen, eine groß angelegte Form mit solchem Elan zu meistern, wie ihn Skrjabin in dieser Sonate (Nr. 3) zeigt?“ Ein mit Artur Medvedev (Violine), Philipp von Morgen (Violoncello) und Jekaterina Medvedeva (Klavier), erstklassig besetztes Trio aus dem Künstler-Pool von MIR, führte in Skrjabins Frühwerk ein.
Bemerkendwert an Skrjabins Werk finde ich dessen rasante stilistische Weiterentwicklung, geprägt durch die anbrechende Ära von Industrialisierung und Urbanisierung im Zeitraffer. Erinnerten mich eben noch die Klänge an die romantisch verklärten Salons eines Frédéric Chopin, so fühlte ich mich beim nächsten Stück schon in die „Symphonie einer Großstadt“ katapultiert … In einem Beitrag auf Anthro-Wiki heißt es: „Sein Spätwerk zeigt eine stilistische Entwicklung auf, die – trotz seines kurzen Lebens – eine Einreihung Skrjabins in die wichtigen Neuerer der Musik der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts rechtfertigt.“
Tatsächlich fällt es mir schwer, angesichts der kurzen Lebenszeit Skrjabins, der Weihnachen 1872 geboren wurde und Ostern 1915 starb, von einem „Spätwerk“ reden zu wollen, deutlich „anders“ aber klingen seine „späteren“ Musikstücke auf jeden Fall, selbst für mich als Laie.
In Skrjabins neuere Klangwelt entführte uns in der Seidlvilla als erster der aus Moskau eingeflogene Pianist Alexey Kudrayshow (Obiges Foto). Er ist unter anderem Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaft und Künste und Preisträger des Skrjabin-Stipendiums. Wie schön, einen Tastenmeister dieses Kalibers nicht in einer Philharmonie, sondern in der relativen Intimität der Seidlvilla erleben zu dürfen 😉
Über Skrjabins vielleicht berühmtestes Werk Poème de l’extase, aus seiner späteren Schaffensphase, schreibt der amerikanische Autor Henry Miller: „Es war wie ein Eisbad. Kokain und Regenbögen. Wochenlang ging ich umher wie in Trance“.
Dem Werk liegt ein Textfragment zugrunde, das Skrjabin eine Weile bei Aufführung seiner gleichnamigen Komposition austeilen ließ. Dem Symbolismus nahestehend, schildert es (das Gedicht; Quelle: Wikipedia) Auseinandersetzungen des für Freiheit und Liebe eintretenden, schöpferischen Geistes mit Schreckensgestalten, dann – zunehmend in direkter Rede – die Rolle des „Ich“, durch welches die gesamte Menschheit in Ekstase erlöst wird. Anfang und Schluss lauten in deutscher Übersetzung:
Der Geist,
Vom Lebensdurst beflügelt,
Schwingt sich auf zum kühnen Flug.
[…]
Und es hallte das Weltall
Vom freudigen Rufe
Ich bin !
Poème de l’extase
Berliner Philharmoniker/Petrenko
> Hörprobe
Links: Skrjabin-Gemälde von Alexander J. Golowin
Nachdem Skrjabin mit Schriften der Theosophie in Berührung gekommen war, reifte in ihm der Gedanke, ein Gesamtkunstwerk ungesehenen Ausmaßes zu schaffen, das in Indien unter einer Halbkugel mit 2.000 Mitwirkenden unter Einbeziehung sämtlicher Künste und Sinneseindrücke so lange immer wieder aufgeführt werden sollte, bis die gesamte Menschheit das so genannte Mysterium erlebt hätte und in kollektive Ekstase versetzt worden wäre, was, wie Skrjabin glaubte, die Menschheit auf eine höhere Bewusstseinsstufe gehoben hätte, mit ihm selbst als der messianischen Figur in ihrer Mitte. (Quelle: Anthro-Wiki)
„Ich bin ein Nichts, ein Spiel, bin Freiheit, bin das Leben.
Alexander Skrjabin
Ich bin eine Grenze, ein Gipfel. Ich bin Gott.“
Im Frühjahr 1915 durchkreuzte eine Blutvergiftung, die Skrjabin sich wegen eines Abszesses auf der Oberlippe zuzog, alle seine Pläne in Indien. Er starb mit noch nicht einmal 43 Jahren …
Zum 100. Todesjahr bestritt in der Seidlvilla nun ein indischer Klavier-Virtuose, Pervez Mody, bravourös den gesamten zweiten Teil des Konzertes und schlug eine Brücke zwischen Gedenkabend und der letzten Schaffensphase des russischen Komponisten.
„Ein sprühender Virtuose und ausdrucksstarker Künstler mit breitem Repertoire, der mit seinen Aufnahmen zu den ersten Skrjabin-Interpreten unserer Zeit eingereiht wird,“ urteilt das Label Thorofon über Mody, der aus Mumbai stammt, in Moskau und Karlsruhe studierte und mittlererweile in Deutschland lebt.
Zum 100. Todesjahr bestritt in der Seidlvilla nun ein indischer Klavier-Virtuose, Pervez Mody, bravourös den gesamten zweiten Teil des Konzertes und schlug eine Brücke zwischen Gedenkabend und der letzten Schaffensphase des russischen Komponisten.
„Ein sprühender Virtuose und ausdrucksstarker Künstler mit breitem Repertoire, der mit seinen Aufnahmen zu den ersten Skrjabin-Interpreten unserer Zeit eingereiht wird,“ urteilt das Label Thorofon über Mody, der aus Mumbai stammt, in Moskau und Karlsruhe studierte und mittlererweile in Deutschland lebt.
Wie nah ihm die Musik Skrjabins ist, ließ sich schon an seiner Anmoderation erkennen, in der er betonte, wie viel ihm daran gelegen sei, in seiner Darbietung das spezielle Klangbild des Komponisten einzufangen. Entsprechend spielte er voller Hingabe und nahm den Applaus zwischen den Stücken – so mein Eindruck – eher widerwillig entgegen, vermutlich, weil ihn diese Unterbrechungen immer wieder aus seinem Pas de Deux mit Skrjabins Musik heraus rissen …
Sehr informativ waren die biografischen Zwischenmoderationen, mit denen Schauspieler Arthur Galiandin charmant durch das Programm führte. Erfreulicherweise beschränkten sich die Texte auf die wesentlichen Eckpunkte in der Vita des Komponisten, ohne – wie leider so oft der Fall bei Kulturveranstaltungen – die Zuhörer mit einem zuviel an Details zu überfrachten.
Diese Veranstaltung hat mir einmal mehr Augen geführt, dass es immer wieder neue Preziosen in der Welt von Kunst und Kultur aufzusammeln gibt, selbst wenn man wie ich schon fast ein halbes Leben damit befasst ist. Man muss sich als Zuschauer/In nur trauen, sich auch auf bis dato unbekannte Künstler und deren Werke einzulassen, die im riesigen Künstler-Universum nur darauf warten, von jeder und jedem von uns entdeckt zu werden.