Bayerns Justitia hinter Gittern – Hintergründe und Details zur Kunstperformance des „Bündnisses für gerechte Justiz in Bayern“

Diesmal kannte ich das Gesicht hinter den Schlagzeilen – Es ging um den Mord an der milionenschweren Parkhaus-Besitzerin Charlotte Böhringer: Einst war sie mir persönlich begegnet, in einer dieser frühmorgendlichen Absturzkneipen am Viktualienmarkt, in denen, jenseits aller gesellschaftlichen Schranken, Halbwelt, Bohème und Schickeria sich jene Theke teilen, die noch ein paar Stunden Aufschub vor der Ernüchterung bietet. Ganz offensichtlich war Charlotte Böhringer, ebenso wie ich zu jener Zeit, nicht zum ersten Mal in dieser Milieu-Kneipe zu Gast. Wer hier und zu solcher Uhrzeit des öfteren abstürzt, führt kein geerdetes Leben und hat oft ein Alkoholproblem. Umso mehr erstaunte mich später, dass sich die Polizei so schnell auf Böhringers Neffen als ihren Mörder festlegte. Allein der Umgang, dem sich das Opfer während ihrer Alkohol-Touren ausgesetzt hatte, verwies auch auf andere denkbare Tatumstände hin, zumal ich selbst Böhringer abwechselnd als sehr schutzbedürftig und dann wieder sehr aggressiv empfunden hatte …

Auf Grund meiner persönlichen Bekanntschaft verfolgte ich den Verlauf des Prozesses besonders aufmerksam und das Urteil „Lebenslänglich unter Anerkennung der besonderen Schwere der Tat“ stimmte mich betroffen, denn es stützte sich ausschließlich auf Indizien, was für mich immer eine problematische Form der Wahrheitsfindung darstellt, erst recht angesichts des ur-demokratischen Anspruchs unserer Gerichtsbarkeit: „Im Zweifel für den Angeklagten“ zu entscheiden. Dem aber widerspricht meiner Meinung nach das Urteil im Fall Böhringer in besonderem Maße, da es trotz einer ganzen Reihe von Ungereimtheiten gefällt wurde. Für mein Empfinden werfen diese zu viele Zweifel auf – Die Bürgerinitiative Pro Bence sieht das ähnlich und hat auf ihrer Homepage eine ganze Reihe von Kritikpunkten zusammen getragen, siehe auch nachstehende Grafik:

Indizienring, Lügendektektortest, Tathergang
Quelle: Homepage der Bürgerinitiative PRO BENCE /  www.probence.de

Hältst Du ihn denn für unschuldig?“, fragte mich heute meine Tochter, als ich ihr bei unserem täglichen Telefonat vom Fall Böhringer/Benedikt Toth erzählte. Neben den vielen kriminalistischen Ungereimtheiten spricht für mich noch ein anderer Punkt für Benedikt Toth, nämlich die vielen treuen Freund_Innen, die von seiner Unschuld überzeugt sind. Ein übler Charakter, der seine Tante um des Erbes willen erschlägt, versammelt meiner Meinung nach nicht eine derart treue Clique über Jahre hinter sich.

Diese Solidarität hielt Daniela Agostini in ihrem Dokumentarfilm von 2010 fest: „Anklage Mord: Ein Freund vor Gericht„. Im Pressedossier des Bayerischen Rundfunks heißt es da: „Ein junger Mann wird des Mordes angeklagt. Seine Freunde und seine Verlobte halten diesen Vorwurf für ein absurdes Versehen. 
Eine kleine Gruppe junger Menschen, alle studiert und in ordentlichen Berufen, hält fest zu ihrem unter Mordanklage stehenden Freund. Unter ihnen ist auch Frauke, Bences Verlobte. Keiner von ihnen mag an die Schuld des Freundes glauben. Sie kennen ihn seit ihrer gemeinsamen Schulzeit. Einen Mord, und noch dazu so brutal, traut ihm keiner zu. Wie hätte er sie so täuschen, sein wahres Gesicht verbergen können? Wie könnte jemand, der keiner Fliege ein Haar krümmt, einer, der immer zuvorkommend, höflich und bescheiden war, so eine Tat begehen? Und das in der Anklage festgehaltene Motiv „Habgier“ kann Frauke und die Freunde erst recht nicht überzeugen. Am Ende, da sind sie sicher, wird ihr Freund den Gerichtssaal als freier Mann verlassen …“

Den Film habe ich seinerzeit gesehen. Er hat mich tief bewegt, und ich habe mit den Protagonist_Innen mitgebangt, obwohl ich den Ausgang des Prozesses ja schon vorher kannte: Am Ende wurde der Freund, der Geliebte, der Sohn, eben nicht frei gesprochen! Der Mutter von Bence habe ich heute in die Augen geschaut. Während der ganzen Aktion kämpfte sie mit den Tränen, vor allem, als sie das weiß-blaue Poster mit dem Namen ihres Sohnes am Käfig fixierte.  Ihr zur Seite steht die Bürgerinitiative Pro Bence mit dem Anliegen, laut Website: „(…) eine breite, kritische und aufgeklärte Öffentlichkeit über den Fall Bence Toth zu informieren.

Dabei bilden die neutralen Vertreter der Presse als „vierte Gewalt“ eine wesentliche Zielgruppe. Waren wir bisher davon überzeugt, auf dem formalen juristischen Weg – unter der Voraussetzung, bei den Verantwortlichen auf unvoreingenommenes Gehör und das Streben nach Wahrheit zu stoßen – zum Erfolg zu kommen, zwingen uns die Umstände und der aktuelle Zeitdruck nun zu diesem Schritt. Wir hoffen, auf diesem Wege eine ähnliche Reaktion zu erzeugen, die auch Harry Wörz und Gustl Mollath zur Rehabilitation geholfen hat. (…)

Gustl Mollath, der selbst zu Unrecht acht Jahre lang in die Psychiatrie gesperrt worden war, appellierte bei der Kundgebung an das Engagement von uns Bürger_Innen und zitierte Plato (sinngem.):“ Das größte Unrecht ist eine (nur) scheinbare Gerechtigkeit.“  Eine Erfahrung, die er selbst hatte erleiden müssen. Erst großer öffentlicher Druck und eine nicht länger zu übersehende Fülle an Beweismaterial zu seinen Gunsten, zwangen die Justiz zum Einlenken. Und er ist kein Einzelfall.

Justizopfer Gustl Mollath am 30.1.2017 auf dem Marienplatz
Justizopfer Gustl Mollath am 30.1.2017 auf dem Marienplatz

Viele Jahre saß Ilona Haselbauer auf Grund eines Fehlurteils in der Psychiatrie. Diese Erfahrung hat sie in einem Gedicht verarbeitet, das sie heute mitten in den Touristen-Auftrieb zum Glockenspiel am Marienplatz vortrug. Erschütternd!

Ilona Haselbauer beschrieb in einem Gedicht ihr jahrelanges Martyrium in der Psychiatrie
Ilona Haselbauer beschrieb in einem Gedicht ihr jahrelanges Martyrium in der Psychiatrie

Erst einmal gar nicht erkannt habe ich den Kopf der heutigen Kampagne, Terry Swartzberg, PR-Berater, Journalist und Aktivist. Vergeblich hatte ich nach einer seiner bunten Kippas Ausschau gehalten, ohne die er seit einiger Zeit nicht mehr aus dem Haus geht. Dass er seine traditionelle jüdische Kopfbedeckung heute unter einer richterlichen Perücke verbergen würde, konnte ich nicht wissen und erkannte ihn daher erst nach einigen Minuten. Wie immer, schien mir auch seine heutige Aktion Medien gerecht durchdacht. Viele Bildmotive, für viele große Kameras – in die sich, wie so oft bei solchen Events, eine kleine Handy-Kamera einreihte: meine  😉

Angehörige befestigen Plakate mit Namen von Fehl/Verurteilten am Käfig, in den kurze Zeit später die Gerichtsbarkeit - alias Terry Swartzberg - die Justitia - alias Eva Martin - symbolisch zerren wird. Eine Klamotte mit Symbolik
Angehörige befestigen Plakate mit Namen von verurteilten Angehörigen an dem Käfig, in den die Gerichtsbarkeit (Terry Swartzberg), die Justitia (Eva Martin) symbolisch zerren wird. Eine Klamotte voller Symbolik!
Justitia sitzt im Käfig ...
Justitia sitzt im Käfig …

„Ich habe meine Tante nicht umgebracht“, sagt Toth und presst die gespreizten Finger fest auf den Tisch. „Ich sehe ein, dass die Ermittler nach dem Mord unter Druck standen. Es kann ja nicht sein, dass mitten in München ein Kapitalverbrechen diesen Umfangs unaufgeklärt bleibt. Ich weiß auch, dass überall Fehler gemacht werden. Aber in meinem Fall handelt es sich nicht um einen Justiz-Irrtum, sondern um volle Absicht – weil sie keinen Blöderen gefunden haben.“ (…) vermut Benedikt Toth in seinem Interview mit John Schneider, 13.04.2015, AZ, im Böhringer-Mord: Benedikt Toth: „Ich bin kein Mörder“.

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Bildausschnitt des Plakates, das Aktivisten des „Bündnisses für gerechte Justiz in Bayern“ heute auf dem Münchner Marienplatz entrollten

Erschwerend kommt hinzu, wie sich auch im Fall Mollath gezeigt hat, dass in der Justiz oft der (unrealistische) Anspruch einer richterlichen Unfehlbarkeit vorherrscht, allen Fakten und vor allem der Wahrheit zuwider. Die belegte Rate an Justizirrtümern ist nicht unbeträchtlich und die Hindernisse, die der Wahrheitsfindung mitunter in den Weg gelegt werden, bedingt durch politisches, finanzielles und sonstiges Kalkül, sind traurige Realität, wie sich u.a. am NSU-Skandal ebenso zeigt, wie bei den verschleppten Ermittlungen im Fall des Oktoberfest-Attentats. Über letzteres habe ich bereits in meinem GdS-Blogbeitrag „Herr und Frau Müller heißen anders“ berichtet.

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Diese Häufung von Ungereimtheiten in der bayerischen Justiz bietet, wie mir Terry Swartzberg heute darlegte, hinsichtlich eines Wiederaufnahme-VerfahrenMs im Fall von Benedikt Toth eine kleine Chance, die Unfehlbarkeit des Systems  in Frage zu stellen. Daher gründete Swartzberg das „Bündnis für gerechte Justiz in Bayern“, das heute via einer Kunstaktion sein Anliegen öffentlich inszenierte. Keine Frage, bei den heute angemahnten Vorgängen handelt es sich um „rechtskräftige Urteile“, ob dabei aber mehr das Recht oder mehr die Kraft, im Sinne gerichtlicher Willkür überwiegt hat, bleibt mehr als zweifelhaft und sollte zumindest gerichtlich dringend überdacht werden.


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Der bekannte Profiler Axel Petermann hat einen Pressespiegel 2019/2020 zum Fall Charlotte Böhringer veröffentlicht und berichtet in seinem 2021 erschienenen Sachbuch Im Auftrag der Toten“ darüber, dito in diversen TV-Sendungen. Auch er stuft die Verurteilung Toths als fragwürdig ein.


Mehr zu > TERRY SWARTZBERG Journalist und Ethical Campaigner,
Vorstand „Stolpersteine Initiative für München e.V.“ sowie „J.E.W.S e.V.“



Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.com

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