„Rund um den Johannisplatz“ – Die aktuelle AZ-Kolumne von Fotograf und Stadtspaziergänger Sigi Müller: Abgesang auf das Flair eines Stadtviertels, zwischen Gentrifizierung und Vernachlässigung, kommentiert von Gaby dos Santos, !Haidhauserin

Der Stadtspaziergänger streift durch ein sehr schönes und inzwischen auch sehr teures Viertel und macht sich so seine Gedanken … heißt es zu Beginn der heutigen AZ-Kolumne von Fotograf Sigi Müller, der diesmal nicht mit mahnenden Worten und leiser, aber deutlicher Kritik spart.

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Ganz zurecht, wie ich finde: Sigi Müllers heutiger Rundgang in Bild und Text führt durch ein Viertel, das in puncto Flair und kulturelle Betriebsamkeit zwischenzeitlich Schwabing den Rang abgelaufen hatte, doch zunehmend droht, ebenso in urbaner Beliebigkeit der gehobenen Art unterzugehen, wie das einst legendäre Stadtviertel im Münchner Norden.

Ist so ein Stadtteil erst einmal aufgebrochen, dauert es nicht lange, bis die Preise in die Höhe schießen und alles Gewachsene und Erschwingliche verschwindet.

Schauen wir nach Altschwabing: Feilitzschstraße, Occamstraße, das ganze Viertel ist luxussaniert. Oft stehen keine Namen an den Klingelschildern. Zweitwohnungen für Leute, die einmal im Jahr in die Stadt kommen?!

Sigi Müller in seiner AZ-Stadtspaziergänger-Kolumne vom 29.11.2021
München-Haidhausen: Ein Viertel zwischen Nostalgie und Underground-Feeling, mit einem Schuss frankophilem Savoir Vivre
Foto: Sigi Müller (augenblick-fotografie.com), in seiner AZ-Stadtspaziergänger-Kolumne vom 29.11.2021

Die Fotos im Beitrag sowie einige, die Sigi Müller mir hat zusätzlich zukommen lassen, dokumentieren eindringlich, mit welcher atmosphärischen Dichte sich noch immer viele Winkel Haidhausens präsentieren, wobei sich mir seit einigen Jahren zunehmend dringlicher die Gretchen-Frage nach dem „wie lange noch?“ stellt und danach, wieviel sich von jenem speziellen Flair wird erhalten lassen, das Haidhausen seiner sehr langen und bewegten Chronik verdankt, wie im Stadtportal muenchen.de nachzulesen ist:

Schon der Name, der auf „Heidhusir“ zurückgeht, taucht zum ersten Mal im Jahre 808 auf und bedeutet „Häuser auf der Heide“. (…) Wie auch die Au war Haidhausen ein Herbergsviertel für Handwerker, Kleingewerbetreibende, Arbeiter und Tagelöhner vor den Toren der Stadt. Viele kleine Herbergshäuser erinnern bis heute daran. (…) Nach dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich entstand in Haidhausen das „Franzosenviertel“, gegliedert nach den Prinzipien französischer Stadtplanung mit breiten Straßen und Boulevards, benannt nach Schlachtorten des Krieges von 1870/71.

Vis à vis vom Johannisplatz; Foto: Sigi Müller

In den 1970er Jahren wurde Haidhausen aufgrund der alten Bausubstanz zum großen Sanierungsgebiet Münchens. Der Strukturwandel brachte auch eine Veränderung des Stadtteillebens mit sich: Aus dem ehemaligen Glasscherbenviertel wurde ein Szene- und Amüsierviertel. > MEHR

Der Beitrag im Stadtportal, der akribisch die Chronik und das heutige Erscheinungsbild des Viertels rund um den Johannisplatz beschreibt, endet mit einem Satz, bei dem ich mich frage, ob er sich als schlichte Feststellung bestätigen wird oder als Drohung hinsichtlich der weiteren Entwicklung Haidhausens:

Die traditionell ausgewogene Mischung von Wohn- und Gewerbegebieten verändert sich nach wie vor.

Stadtportal muenchen.de

Da frage ich mich schon, in welcher Form diese Veränderung voranschreiten wird? Dass bereits eine Schieflage entstanden ist, spricht auch Sigi Müller in seiner Kolumne an:

Es ging um ein 39 Quadratmeter großes Appartement für 1,2 Millionen Euro – ich hatte damals für die AZ die Fotos vor der Johanniskirche von dem Gebäude gemacht.

Und ich hatte auch im Mai hinter der Johanniskirche fotografiert, als Hildegard und Paul Breitner, wie jede Woche, zusammen mit vielen ehrenamtlichen Helfern der Münchner Tafel Lebensmittel an Bedürftige verteilten …

Irgendetwas stimmt in dieser Stadt gar nicht mehr

Sigi Müller in seiner AZ-Stadtspaziergänger-Kolumne vom 29.11.2021

Das letzte Statement mag einem gewissen Novemberblues mit geschuldet sein, aber die Kritikpunkte die Sigi Müller, ausgehend vom Johannisplatz, in seinem Beitrag aufführt, sind nicht von der Hand zu weisen. Ob ewige Baustellen, wie der Brunnen am Ostbahnhof, auf denen augenscheinlich gar nicht gebaut wird oder das Ärgernis vergammelnder Schanigärten – auch in Haidhausen:

(…) neben dem Kaufring in der Weißenburger Straße: ein Schanigarten, ohne Bewirtschaftung, die Paletten mit Nadelfilzauflage ranzen vor sich hin. Bei weitem nicht der einzige Schanigarten, der ungenutzt Parkplätze blockiert, die vorher als Parklizenzen an die Anwohner verkauft werden.

Sigi Müller in seiner AZ-Stadtspaziergänger-Kolumne vom 29.11.2021

Mir geht es hier jedoch nicht um wohlfeiles Gemeckere, sondern darum, wie auch Sigi Müller es mir gegenüber sinngemäß formulierte, das Bewusstsein dafür zu schärfen, in welcher Art von Stadt und erst recht in welcher Art von Viertel wir eigentlich leben und künftig leben möchten. Die Antwort darauf sollte das individuelle Verhalten ebenso, wie das gesellschaftliche Engagement und die politische Partizipation, insbesondere auf kommunaler Ebene bestimmen – im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten. Meine sind seit Jahren etwas eingeschränkt > Plötzlich Rentnerin – sehr wohl aber kann ich recherchieren, dokumentieren und schreiben!

Ein herbstlicher Johannisplatz; Foto Sigi Müller 11.11.21

Sigi Müllers Ende-November-Beitrag empfinde ich daher als Weckruf, mich in Zukunft, im GdS-Blog, mit dem Thema „kommunalpolitisches Gestalten“ intensiver zu befassen und detaillierter herauszufinden, wie man als AnwohnerIn konkret den Ort mit betreuen kann, an dem man lebt.

Für mich persönlich bedeutet das, hier in Haidhausen weiter von Familien mit Kindern umgeben zu sein, die drohen, weggentrifiziert zu werden, weiter beim Afghanen Pizza zu essen und mit dem Musiker-Wirt des Café Haidhausen zu philosophieren, statt in sterilen Coffee-Shops Macchiato zu schlürfen und die originellen kleinen Handwerksläden und Boutiquen zu durchstöbern, die noch durch eigene Handschrift punkten.

Dabei schadet ein wenig Patina an dem einen oder anderen Gebäude keineswegs, schon gar nicht, wenn die Alternative luxuriöse Kühle für eine betuchte Minderheit wäre, auf Kosten der Alteingesessenen.

Solange also mein Treppenhaus so richtig schön gammelig bleibt, und ich mich täglich 99 Stufen bis in meine Mansarde schleppe, bin ich zuversichtlich weiter in einem der schönsten Viertel Münchens leben zu dürfen – noch.


Mehr von und zu Fotograf Sigi Müller im GdS-Blog
und unter > www.augenblick-fotografie.com







Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.com

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