Zwei Visionäre im Schulterschluss: Bürgerrechtler Jesse Jackson/USA und Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti & Roma gemeinsam in Auschwitz, 75 Jahre nach der Blutnacht im sogenannten „Zigeunerlager“ von Gastautorin Maria Anna Willer

Dieser Tag wird in die Geschichte eingehen. Denn er wird die Zukunft verändern. Es ist ein Tag der weltweiten Solidarisierung für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie. Jesse Jackson, der große US-amerikanische Bürgerrechtler, steht neben Romani Rose. Daneben reihen sich Roman Kwaitkowski, Vorsitzender der Vereinigung der Roma in Polen, und Roma Vertreter und Vertreterinnen aus vielen Ländern Europas. „Der Kampf um die Seele der Menschlichkeit darf nicht aufgegeben werden“, spricht Jackson vor den Zuhörern ins Mikrofon. Er verkündet den „Aufruf von Auschwitz“. Der Appell richtet sich an die internationale Staatengemeinschaft und an jeden Einzelnen. Jeder trage die Verantwortung, sich für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, für den Schutz von Minderheiten und ein Leben in Freiheit einzusetzen. Es ist ein Appell, der in die Zukunft blickt.

Ein historischer Moment: Gemeinsamer Appell der Bürgerrechtler Romani Rose und Jesse Jackson; Foto: Roberto Paskowski, im Vorstand des bayerischen Landesverbandes Deutscher Sinti & Roma

Neuer Internationaler Zusammenschluss von Bürgerrechtlern

Rev. Jesse L. Jackson spricht von der „ewigen Auferstehung der Hoffnung“, die sich ihren Weg bahnen werde, Romani Rose vom Vermächtnis aller Opfer des Holocaust, „aller von den Nazis ermordeten Menschen, die wir in uns tragen müssen.“ Der 75. Jahrestag der Mordaktion an Sinti und Roma gibt als internationaler Gedenktag den Auftakt für einen interkontinentalen Zusammenschluss von Bürgerrechtlern, Menschenrechtsaktivisten, Angehörigen von Minderheiten, Vertreten aus Politik und Gesellschaft. Schnell wird bei den Reden klar: Hier geht es um zukünftiges politisches und individuelles Handeln. Und die vielen Toten weisen den Weg – denn Auschwitz darf nie wieder geschehen.

Ein Blumenmeer ist vor der Gedenkveranstaltung unter einem Zelt bereitgestellt. Sinti und Roma verwenden Blumen für Grabgebinde. Zum Abschluss der Gedenkveranstaltung bringen die einzelnen Gruppen ihre Gebinde zum Mahnmal auf dem Gelände des ehemaligen Lagerabschnitts BIIe Dort ist auch die Rednerbühne.

Die meisten Teilnehmer auch unserer Reisegruppe sind schwarz gekleidet. „Es ist wie ein Gang zu einem riesigen Friedhof“ hörte ich an diesem Morgen des 2. August 2019 beim Frühstück. Nur dass im Unterschied zum Friedhofsbesuch die Toten nicht natürlicherweise starben, sondern ermordet wurden, und dass es viele sind, sehr viele. In nur einer Nacht – der Nacht der heute gedacht wird-, kamen 4300 Menschen in den Gaskammern um. Doch Zahlen sind heute, an diesem offiziellen Gedenktag, nicht das Entscheidende. Die Mordnacht an Sinti und Roma steht sinnbildlich für alle Verbrechen, die in Auschwitz und anderen Vernichtungsorten der NS-Zeit geschahen. Auschwitz heute ist Symbol für Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Zeitzeugin berichtet von Mordnacht in Auschwitz

Drei Zeitzeugen sprechen und berichten aus ihrem eigenen Erleben: Es sind die Auschwitz-Überlebenden Else Baker, Eva Fahidi-Pusztai und Nadir Dedic. Die Frau im weißen Kleid am Rednerpult ist Eva Fahidi-Pusztai. Sie wurde 1944 als ungarische Jüdin nach Auschwitz deportiert. Seit 1. Juli 1944 war sie direkt neben dem sogenannten „Zigeunerlager“ im Lagerabschnitt B II in Auschwitz-Birkenau gefangen und erlebte die Mordnacht mit. Bereits der Nachmittag des 2. August 1944 hatte sich ihr wegen einer Strafaktion eingeprägt. Ein Mädchen hatte ihre Mutter entdeckt und wollte bei ihr bleiben. „Man hat Mutter und Tochter entdeckt und beide so lange gepeitscht, bis sie sich nicht mehr geregt haben. Und wir, die zuschauen mussten, mussten auf den spitzen Steinen vom Appellplatz mit hochgestreckten Armen knien.“, berichtet die heute über 90jährige Frau.

Als die Gefangenen ihres Lagerabschnitts in der Baracke abends auf dem blanken Boden lagen, „wurde es auf einmal hell wie am Tag und gleichzeitig ertönte ein schrecklicher Lärm. SS-Männer sind gekommen und haben die Menschen mit Flammenwerfern aus den Baracken im Lager B.II.e getrieben. Es waren sehr viele Kinder dabei gewesen. Das kleinste Geschöpf Gottes weiß, wenn es um sein Leben geht. Die Menschen wussten, dass sie in das Gas getrieben werden. Sie widerstanden mit Steinen, mit Stöcken, mit Gegenständen, die ihnen in die Hände fielen, wobei sie schrien, fluchten, brüllten oder beteten. Die SS hetzte die laut bellenden Hunde auf die Menschen, sie griffen die Menschen an, die Verzweiflung war groß, der Lärm war schrecklich, die Kinder weinten nach den Müttern, (…)“. Auf einmal sei es still gewesen. „Und das konnte man auch kaum aushalten.“      (Auszüge der Rede von Zeitzeugin Eva Fahidi-Puztai am 2. August 2019)

Die symbolische Verbeugung der Redner vor den Opfern, mit dem Rücken zu den Zuhörern, vor dem Mahnmal für die ermordeten Sinti & Roma in Auschwitz-Birkenau

Der Aufruf von Auschwitz

Den Appell „Aufruf von Auschwitz“ unterzeichnen am 2. August 2019 Rev. Jesse L. Jackson Sr., Präsident der Rainbow/PUSH Coalition, Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma und Roman Kwaitkowski, Vorsitzender der Vereinigung der Roma in Polen. Viele weitere werden folgen.

Am nächsten Tag habe ich Gelegenheit, Romani Rose zu fragen, wie der neue Zusammenschluss mit Jesse Jackson und der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die in der Nachfolge der Bewegung Martin Luther King’s steht, entstanden ist. Er selbst habe Kontakt zu Jackson aufgenommen, antwortet der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Er schrieb ihn an. Die Antwort kam postwendend, mit einer Zusage zur  Zusammenarbeit.

Zuletzt: Friedliche Abendstimmung auf der Weichsel nach intensiven Tagen …; Foto: Maria Anna Willer

Rev. Jesse Jackson spricht auch auf der Fachtagung an der Universität in Krakau; er ist mit mehreren Begleitern bei Veranstaltungen des Rahmenprogramms zum Gedenktag dabei. US-Bürgerrechtler und Sinti und Roma aus Europa lernen sich kennen. Bei der abschließenden Bootsfahrt auf der Weichsel komme ich ins Gespräch mit Jesse Jacksons Sohn. „Unterdrückung geschieht weltweit auf die gleiche Art und Weise“, erklärt er in Englisch und sinngemäß in meiner Übersetzung: „Sie beginnt mit dem Schüren von Vorurteilen, der Minderbewertung von Menschen. Menschen leiden unter dieser so geschaffenen Ungleichheit. Deswegen ist es wichtig, aufzustehen und sich zu wehren.“


Der Junge aus Auschwitz 
von Maria Anna Willer

ISBN: 9783745053517

Peter Höllenreiner überlebte die Konzentrationslager Auschwitz, Ravensbrück, Mauthausen und Bergen-Belsen. Der Hölle entkommen, kommt er 1945 als Sechsjähriger zurück in seine Geburtsstadt München. Seine Schulzeit beginnt und die Welt begegnet ihm, als ob nichts gewesen wäre. “Hintere in die letzte Bank!”, heißt es in der Schule. Die Ausgrenzung geht weiter. Peter Höllenreiner und seine Familie waren der nationalsozialistischen Verfolgung als sogenannte “Zigeuner” ausgesetzt gewesen. Trotz Demokratie, neuer Regierungsform und der Erklärung von Menschenrechten – die alten Vorurteile blieben. Und Peter lebt im Land der einstigen Täter, es ist seine Heimat.

Rund 70 Jahre nach Kriegsende und seiner Befreiung aus einer Kindheit unter ständiger Lebensgefahr schaut Peter Höllenreiner zurück. Der Münchner erzählt erstmals seine Lebensgeschichte. Zwei Jahre lang begleitet ihn die Biografin Maria Anna Willer. Sie gibt seine Erzählungen auszugsweise wieder und recherchiert in Archiven. Ein dunkles Kapitel deutscher Nachkriegsgeschichte tut sich auf. In den aktuellen Ereignissen offenbart sich der Blick des Überlebenden des Holocaust auf unsere gegenwärtige Gesellschaft.


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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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