„ARNIKO“ – nach dem Roman „Die Ursitory“ des Roma-Schriftstellers Matéo Maximoff, aufgeführt von Regisseurin Dorothea Schroeder als szenische Lesung mit der Romni Ivana Nikolić (Rez.) und dem Sinto-Gitarristen Rano Timm, auf dem Campingplatz der Münchner Sinti & Roma / Hintergründe / Fotos

Die Ursitory sind drei Schicksalsengel, die gleich nach der Geburt den Lebensweg eines Kindes bestimmen. Arniko, der mitten im Winter in einem Zelt zur Welt kommt, prophezeien sie, dass er nur solange leben wird, bis der Holzscheit im Lagerfeuer zu Asche verbrannt ist. Eigentlich ein Todesurteil für den Säugling. Doch nach einem Moment der Schreckensstarre reißt seine Großmutter geistesgegenwärtig den Holzscheit aus dem Feuer, löscht ihn und übergibt ihn dann Arnikos Mutter zur Verwahrung. Vorerst gerettet, entwickelt sich Arniko, dank besonderer Kräfte und Tapferkeit, zu einem großen Helden, erlebt Abenteuer und Liebesgeschichten und stiftet schließlich Frieden zwischen den verfeindeten Clans seiner Familie. Ihm selbst jedoch ist kein Happy End vergönnt.

Den Roman zu dieser Geschichte verfasste der französische Roma Matéo Maximoff 1938, als er nach einem blutigen Kampf zwischen zwei verfeindeten Familien vor Gericht kam. Sein Verteidiger riet ihm, seine Geschichte aufzuschreiben. Maximoff kam der Anregung nach. Daraus entstanden ist ein ebenso packender wie melancholischer (Fantasy)Roman Die Ursitory, der den Beginn seiner Laufbahn als erster Schriftsteller der Roma markiert.

In dem Buch lässt Maximoff, ganz in der Tradition der Roma-Geschichten-erzählerInnen, Erlebtes und Gehörtes, Legenden, Realismus und Mystik verschmelzen. Zugleich plädiert das Werk in seiner Doppelbödigkeit insbesondere für ein friedvolles Miteinander und bietet wertvolle Einblicke in die Kultur und historische Lebensweise der Roma.

Um Arnikos Geschichte in einer szenischen Lesung zu erleben, fand ich mich an einem Herbstnachmittag stimmigerweise in einem Zelt wieder, gemeinsam mit Münchner Sinti um ein Lagerfeuer versammelt. Als Nicht-Sinteza gehörte ausnahmsweise einmal ich einer Minderheit an, gemeinsam mit drei weiteren Gadje (Angehörige der Nicht-Roma-Mehrheitsgesellschaft), die da waren:

  • die ehemalige Sozialarbeiterin, Bürgerrechtsaktivistin und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes Uta Horstmann
  • der Zelt-Gastgeber und Märchenerzähler Matthias Fischer
  • sowie die Regisseurin dieser Arniko-Adaption, Dorothea Schroeder
V.l. Stimmungsvolles Ambiente im Zelt
– Mitveranstalter Alexander Diepold hält eine Einführungsrede
Die Romni Ivana Nikolić (Rez.) und Sinto-Musiker Rano Timm

Gemeinsam tauchten wir ganz tief in die geheimnisvolle Welt des jungen Arniko ein …

Regisseurin Dorothea Schroeder hat die Schauspielerin Ivana Nikolić so geschickt in dem begrenzten Raum des Märchenzeltes inszeniert und Nikolić erzählt und bewegt sich so lebendig und mitreißend, dass man selbst in den zunächst auf Romanes gesprochenen Passagen gefesselt ist und das Gefühl hat, man brauche die deutsche Sprache kaum, um zu verstehen. (…)“

… hatte bereits die Augsburger Presse die Inzenierung gelobt, die Schroeder im Rahmen des Jungen Theaters Augsburg/AKA:NYX Theaterkollektivs 2022 produzierte.

Momenteaufnahmen von Ivana Nikolić in Dorothea Schroeders ARNIKO-Inszenierung
Fotos-/Ausschnitte: Frauke Wichmann

Die Regisseurin beweist dabei nicht nur mit der Wahl des Märchenzelts von Matthias Fischer einen gute Hand: Auch ihre Darstellerin Ivana Nikolić, eine Romni-Schauspielerin aus Wien, mit serbischen Wurzeln, erwies sich als kongeniale Besetzung, verkörperte sie doch voller Leidenschaft die Handlung der Geschichte, weil diese einer Kultur entsprang, die auch die ihre war – und in der lange Zeit Geschichte und Geschichten nur mündlich übermittelt wurden, von Generation zu Generation.

Ivana Nikolić bei ihrem Auftritt am 15.10.2022

Dieses Prinzip greift Regisseurin Dorothea Schroeder in ihrer Arniko-Produktion auf und erläutert in der Projektdarstellung:

„Die Romni Ivana Nikolić entführt Große und Kleine in die jahrhundertealte Erzählkunst der Roma. Sie setzt sich spielerisch mit den alten Traditionen der Roma, mit ihrer eigenen Herkunft und der der Zuschauer*innen auseinander: Welche Bedeutung haben diese Traditionen, diese Sprache und Kultur heute für uns? Welche Rolle spielen sie für ein Miteinander in einer offenen, neugierigen Gesellschaft?“

Foto links: Dorothea Schroeder, rechts außen mit Ivana Nikolić (Rez.) und Sinto-Musiker Rano Timm

Arnikos Abenteuer – Trailer:

> MEHR zum Stück

Als Veranstaltungsort für diese Roma-Erzählung bot sich der Campingplatz der Münchner Sinti und Roma symbolisch geradezu an, ein Durchfahrer-Platz für ein „Fahrendes Volk“, das hierzulande schon lange nicht mehr fährt, geschweige denn in Zelten oder Wohnwagen lebt. Außer mitunter im Urlaub, wie die Mehrheitsgesellschaft auch. Dennoch bedurften die Münchner Sinti & Roma dieses eigenen Geländes, da ihnen deutschlandweit lange der Zutritt zu regulären Campingplätzen verwehrt blieb.

Verwirklichen ließ sich der Campingplatz jedoch erst, nachdem Ostern 1980 ein Hungerstreik von Sinti & Roma in der KZ-Gedenkstätte Dachau international Wellen geschlagen hatte und zunehmend mehr Bürgerrechte gewährt wurden.

> LINK
zum Beitrag im GdS-Blog

Federführend für die Errichtung des Platzes war 1981, gemeinsam mit einem Kollegen, Uta Horstmann, die heute als Besucherin zurückgekommen war – Die selbe Uta übrigens, die sich 1980, als einzige Frau und Nicht-Sinteza, aus Solidarität dem Hungerstreik angeschlossen hatte! Sie habe gar nicht anders können, erläuterte sie mir einmal, in einem unserer vielen Gespräche, die immer wieder um „Erlöserkirche Dachau 1980“ kreisen. Als Sozialarbeiterin, die sich sofort nach Beendigung ihres Studiums für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Münchner Sinti und Roma engagierte – und ihr gesamtes Arbeitsleben hindurch damit fortfuhr. Sie wusste aus persönlicher Erfahrung von den unzumutbaren Umständen, unter denen viele Angehörige dieser Ethnie damals mehr dahin vegetierten als lebten …

Uta Horstmann 1980 als junge Sozialarbeiterin beim Hungerstreik der Sinti & Roma in Dachau
und 2022 auf dem Campingplatz der Münchner Sinti & Roma

Vor diesem Hintergrund bedeutete für Uta Horstmann ihre Rückkehr nach vielen Jahren Erinnerungen ohne Ende … Ich erlebte, wie gestandene Männer gerührt auf Uta zugingen und sie herzlichst mit dem Hinweis begrüßten: „Das letzte Mal, dass ich Dich gesehen habe, war ich zwölf Jahre alt ..! „ Und jetzt verbrachten sie den Nachmittag mit ihren eigenen Familien auf dem Campingplatz, sahen ihren eigenen Kindern beim Toben zu, besuchten mit ihnen das Märchenzelt und versorgten sie ausgiebig mit Hamburgern, Steaks und Hotdogs, die die Betreiber der Würstl-Bude „wegen der Kinder“ uns allen kostenlos spendierten!!

Im Uhrzeigersinn:
Familiennachmittag, im Vordergrund mein Liebling „Tyson“, der dramaturgisch passend vor dem Zelt zu knurren begann, als es drinnen um einen Bären ging, der Arniko bedrohte …
Alexander Diepold, u.a. Gründer und Geschäftsführer von Madhouse, im Gespräch mit Platzwart Ramono
– Ewige Faszination „Feuer“ … die Kinder mit Märchenerzähler und Zelt-Inhaber Matthias Fischer

Oft beobachtete ich an diesem Nachmittag meine Freundin Uta, wie sie ein wenig abwesend vor sich hinblickte. Abwesend, aber nicht etwa unglücklich über die Vergänglichkeit der Zeit.

Im Gegenteil sagte sie mir später sinngemäß: „Weißt Du Gaby, es war ein schönes Gefühl, das alles so gut geworden ist und meine Arbeit nun von Madhouse (dem Münchner Beratungs- und Kulturzentrum für Sinti und Roma) nahtlos weitergeführt wird … „

Beneidenswert, wenn man mit solcherart verdienter Genugtuung auf sein Lebenswerk zurückblicken kann. Dafür erhielt Uta 2016 das Bundesverdienstkreuz … Während andere nun ihre Arbeit fortführen, denn es gibt noch mehr als genug zu tun in Bezug auf die Stellung von Sinti und Roma – in München ebenso, wie bundes- und weltweit!

So fand denn auch Alexander Diepold, wie üblich, keine Muße, sondern führte seine Beratungstätigkeit gleich vor Ort weiter, siehe obiges Foto … 😉 Der Campingplatz steht seit 2021 übrigens ebenfalls unter der Kuratel seiner Beratungsstelle Madhouse – und das ist wohl auch besser so, nach dem zu urteilen, was ich von allen möglichen Seiten, auch seitens VertreterInnen der Mehrheitsgesellschaft vernommen habe:

Das Wirtschaftsgebäude – Foto links – war mit der Zeit in einen absolut desolaten Zustand geraten, da jahrzehntelang keine Fördermittel in eine Renovierung geflossen waren. Zu Recht stellte Alexander Diepold irgendwann die Gretchenfrage, warum Sinti & Roma hygienische Zustände zugemutet würden, die anderswo das Gewerbeamt auf den Plan gerufen hätten! Und zwar umgehend!!

Eine – sehr – provisorische Instandsetzung hat er vorab innerhalb der Community organisiert, jetzt aber ist pekuniär dringend die Stadt gefordert!

Auch noch eine weitere, allerdings traurige Vita begegnete mir auf diesem Campingplatz: Am Ende des außerhalb der Saison leeren Areals befindet sich ein baufälliger Wohnwagen, mit der einzigen Dauer-Camperin auf dem Gelände – Und bei ihr handelt es sich weder um eine Sinteza noch um eine Romni, sondern um eine Obdachlose aus der Mehrheitsgesellschaft …

Ich war ganz überrascht, zu erfahren, dass ein solcher Holzverschlag überhaupt bewohnt war. Der Gedanke an das Schicksal der Bewohnerin überschattete ein wenig den innerlich wie äußerlich mild golden angehauchten Nachmittag. 😦

Uta Horstmann, Alexander Diepold, Gaby dos Santos und Dorothea Schröder
vor dem Märchenzelt von Matthias Fischer

Ein wenig profan mutete dann der Ausklang an: Alexander, Uta und ich stürmten vor unserer gemeinsamen Heimfahrt noch schnell in den nächstgelegenen Aldi. Ab da war wieder „Welt“; allerdings für Alexander nicht lange; er eilte gleich weiter in die Hauptstadt, wo er im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für die im Holocaust verfolgten Sinti und Roma u.a. auf Bundespräsident Steinmeier traf.

Schauplatz des Gedenkaktes war das Areal rund um das vom israelischen Künstler Dani Karavan anrührend gestaltete Holocaust Mahnmal zum Gedenken an die verfolgten und ermordeten Sinti und Roma.

Siehe dazu auch im GdS-Blog >

„Wer die Ruhe stört, ermordet die Opfer ein weiteres Mal …“

U.a. mit einem Appell der Hildegard-Lagrenne-Stiftung, deren Geschäftsführer ebenfalls Alexander Diepold ist.

Die Klanginstallation für das Denkmal schuf der Sinto Musiker und Komponist Romeo Franz. Heute ist er MdB für DIE GRÜNEN und auf einem der nachstehenden Fotos im Gespräch mit seiner ebenfalls in der Sache engagierten Parteikollegin, Kulturministerin Claudia Roth zu sehen.


MEHR BEITRÄGE zum Themenkreis > Sinti & Roma, Jenische und Reisende …

Alexander Diepold gefeatured

„Ein nüchternes Bürogebäude mitten in München soll ein ‚Narrenhaus‘ beherbergen?“, lautet die rhetorische Frage im BR-Pressetext zur ARD-Dokumentation „Leben im Madhouse: Ein Ort für Sinti…

Keep reading

Wird geladen …

Es ist ein Fehler aufgetreten. Bitte aktualisiere die Seite und/oder versuche es erneut.


Übersichtstext im GdS-Blog zu >


Titelmotiv: Foto aus der Fotoserie von Frauke Wichmann zur ARNIKO-Produktion von Dorothea Schröder,
kombiniert mit dem GdS-Logo: Eine Theatermaske mit Perlenträne


Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.com

Hinterlasse einen Kommentar

Entdecke mehr von Gaby dos Santos

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen