Nach der überraschenden Freilassung von Benedikt Toth aus lebenslanger Haft am 24.4.2023, folgt jetzt der Kampf um seine komplette Rehabilitierung im Mordfall Charlotte Böhringer

Nach der überraschenden Freilassung von Benedikt Toth aus lebenslanger Haft folgt jetzt der Kampf um seine komplette Rehabilitierung im Mordfall Charlotte Böhringer

„Versäumnisse, Irrtümer und Willkürlichkeiten der Ermittlungsbehörden, des Gerichts und seiner Kontrollinstanzen um den Fall von Benedikt Toth müssen auf den Prüfstand gestellt werden. Unser Ziel ist, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und endlich die Wiederaufnahme des Verfahrens zu erwirken.“ schreiben die Fotografin Susanne von Lieven-Jell und die Autorin/Journalistin Marie Velden auf ihrer Homepage, die ganz zu Recht den vielsagenden Namen zweifelHAFT.org trägt.

Auf dieser Website finden sich unter anderem die – euphemistisch ausgedrückt – irritierenden Vorgänge rund um die Ermittlungen der Münchner Kriminalpolizei im Mordfall Charlotte Böhringer aufgelistet sowie ein regelmäßig aktualisierter Medienspiegel und vieles mehr.

Screenshot der Homepage „zweifelhaft.org„, zur Unterstützung von Benedikt Toth
ins Leben gerufen von
Fotografin Susanne von Lieven-Jell und Autorin Marie Velden

Parallel zur Anlage dieser Homepage initiierten von Lieven-Jell und Velden einen Unterstützerkreis, unter Schirmherrschaft von Christian Ude, der in diesem Fall ebenso Handlungsbedarf sah, wie beispielsweise auch der bekannte Profiler Axel Petermann. Letzterer wies in zahlreichen Publikationen und TV-Auftritten immer wieder auf die Ungereimtheiten in diesem Kriminalfall hin, dito DokumentarfilmerInnen wie Gunther Scholz („Ich war es nicht! Zwei Urteile und viele Zweifel„/2016) oder Daniela Agostini (Anklage Mord. Ein Freund vor Gericht/2010).

Wirft man einen Blick auf die Ermittlungsakten, so kommt man aus dem Staunen gar nicht heraus angesichts der vielen Hinweise, die im Zuge der Ermittlungen schlichtweg nicht beachtet wurden. Vielmehr schoss sich die Mordkommission, unter Leitung von Josef Wilfing (+ 2022), alsbald auf Benedikt Toth, den Neffen der Ermordeten, als einzigen Tatverdächtigen ein. Wilfling, den ich 2002 bei einer Veranstaltung meiner Kulturplattform jourfixe-muenchen zu Gast hatte, liebte seine spektakulären Fälle ebenso wie das Rampenlicht und unterhielt uns den Abend über mit packenden Anekdoten, wie er sie später in Büchern und TV-Auftritten schilderte. Allerdings verbuchte er in seiner Laufbahn einige ebenso spektakuläre Fehleinschätzungen, wie zuletzt im NSU-Fall.

Josef Wilfling bei einer Autorenlesung im November 2017,
Quelle: WIKIPEDIA

Im ersten Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtags zur NSU-Mordserie löste Wilfling einen Eklat aus, als er noch im Nachhinein die Fehler der Polizei und die anfängliche Suche nach einem tatverdächtigen „Mischling“ rechtfertigte. Unter anderem mit dem provozierenden Satz:

„Haben Sie schon einmal einen Neonazi auf dem Fahrrad gesehen?“

Josef Wilfling, Leiter der Münchner Mordkommission von 2002 – 2009 > SZ-Online, 2. August 2022
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Auch Manfred Götzl, der Richter, der Toth schuldig sprach, erweist sich als mitunter „speziell“ in seiner Amtsausübung, nachzulesen in einem SZ-Artikel der bekannten Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger:

Der Richter liebt Details, trifft aber auch eigenwillige Entscheidungen

Er ist bis zur Detailversessenheit akkurat, was ihn allerdings nicht davon abhält, immer wieder eigenwillige Entscheidungen zu treffen: Im NSU-Prozess etwa ließ er einen Neonazi, den engsten Vertrauten der Terrorzelle, glimpflich davonkommen. Auch einem hessischen Verfassungsschützer, der während eines NSU-Mordes am Tatort war und darüber gelogen hatte, glaubte er am Ende – nachdem er ihn fünf Mal nach München ins Gericht hatte kommen lassen.

Und bei Benedikt T. hielt ihn die Tatsache, dass der Täter mit der rechten Hand zugeschlagen hatte, nicht davon ab, den Angeklagten zu verurteilen, obwohl der Linkshänder ist.



Das Gericht erklärte, die anderen Indizien hätten sich „wie ein Ring“ um Benedikt T. geschlossen.

> Manfred Götzl, der akkurate Richter, Artikel auf SZ-Online vom 28.2.2023 von Annette Ramelsberger
Foto: Picture Alliance, dpa, Tobias Hase

Dieser Artikel gehört zu einer ganzen Reihe Medienbeiträge, die im Tandem mit vielen weiteren Aktivitäten der Unterstützerinnen Susanne von Lieven-Jell und Marie Velden jüngst erschienen sind. Velden ist selbst Journalistin, kam über einen Auftrag für Focus/True Crime mit Benedikt Toth in Kontakt, beschloss, sich fortan für dessen Entlastung einzusetzen und holte die Fotografin Susanne von Lieven-Jell dazu. Ihrem nunmehr gemeinsamen Anliegen kam dabei die Fülle an bestehenden Medienkontakten zugute, die sie aktivierten, um neue Bewegung in den Fall zu bringen.

Engagierte Powerladies im Doppelpack: Autorin Marie Velden und Fotografin Susanne von Lieven-Jell

Tatsächlich meldete sich auf einen der Artikel ein neuer Zeuge, dessen Aussage dem Fall möglicherweise eine gänzlich neue Wendung geben könnte. Und die wäre auch dringend geboten, um die Rehabilitation zu erwirken, die „Bence“ – wie ihn seine Freundinnen und Freunde nennen – so sehr am Herzen liegt. Ein weiterer Antrag auf ein Wiederaufnahmeverfahren läuft – schon seit Herbst letzten Jahres, denn die Mühlen Justizias mahlen langsam … 

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Natürlich wieder mit offenem Ausgang, zumal es sich hier um einen jener aufsehenerregenden Fälle handelt, die in der sogenannten „besseren Gesellschaft“ angesiedelt sind. Und in der neigt man dazu, in Bezug auf jegliche Art von Nachfragen eher wasserdicht zu halten. Das zeigte sich mir bereits 2017, als Profiler Axel Petermann und ich meine Freundin Toni Netzle anriefen, die ehemalige Prominentenwirtin im Alten Simpl, die natürlich auch mit Charlotte Böhringer bekannt gewesen war – und mir normalerweise nie eine Antwort schuldig blieb. Bei diesem Anruf jedoch mauerte sie schlichtweg. Wobei mir Charlotte Böhringer, allerdings in einem nicht so ganz feinen Ambiente selbst einmal begegnet war (s. nachstehende Vorschau), einer der Gründe übrigens, warum mich die schnelle und einseitige Festlegung auf Benedikt Toth als Täter schon immer gewundert hat (s. auch nachstehende Vorschau) >

Bereits seit Januar 2017 verfolge ich den Fall und berichte darüber, seit mich mein Freund, der Journalist und Ethical Campaigner Terry Swartzberg zu einer Protestkundgebung eingeladen hatte, die er auf dem Münchner Marienplatz veranstaltete:

Justizopfer Gustl Mollath, im Jahr zuvor endlich aus der Psychiatrie entlassen, hatte sich aus Solidarität eingefunden und auch Benedikt Toths Mutter. Ihr Anblick berührte mich ganz besonders, bin ich doch selbst Mama und Oma und möchte mir gar nicht ausmalen, wie es wäre, wenn Bences Schicksal einen meiner Herzallerliebsten treffen würde!

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Umso mehr treibt mich die Frage um, warum es erst der privaten Initative zweier engagierter Mitbürgerinnen bedurfte, um einmal mehr jene Hebel in Bewegung zu setzen, die diesmal zu jenem neuen Zeugen führten, nachzulesen auch im Mega-Artikel von SZ-Autor Joachim Mölter vom 24.02.2023 > War noch jemand auf dem Parkdeck?, für den Velden und von Lieven-Jell ihm ihr Recherche-Material zur Verfügung stellten.

Links zu den letzten Artikeln in Übersicht >

Fall Charlotte Böhringer: Verurteilter ist frei SZ, 24.04.2023 lesen » 

War noch jemand auf dem Parkdeck? SZ, 24.02.2023 PDF öffnen »

Manfred Götzl, der akkurate Richter SZ, 28.02.2023 lesen » 

Hans Ritt über Fall Böhringer:
„Ich werde das sehr genau verfolgen“ AZ, 19.11.2022 lesen »

Anwalt des Neffen beantragt
Wiederaufnahme des Verfahrens SZ, 20.10.2022 lesen »

Obige LINKS, viele weitere Links und Infos mehr > zweifelhaft.org

Dass die beiden Aktivistinnen (als professionell Außenstehende) im Zuge ihrer Recherchen nicht unbedingt immer und überall mit offenen Armen empfangen und ihre Anliegen nicht immer verstanden wurden, liegt auf der Hand. Ihnen beiden umso mehr „Chapeau“ für ihre Leistung!

Die JVA Straubing fotografiert anlässlich eines Besuchs von Marie Velden und mir bei Benedikt Toth Ende März 2020

Das Schicksal Benedikt Toths – das sollten wir uns unbedingt vor Augen halten – geht uns alle an, nicht nur aus Mitgefühl, sondern weil es jede und jeden von uns jederzeit, auf die selbe Weise treffen könnte, solange Verurteilungen unter solchen Umständen möglich sind, solange einer möglichen Willkür von Polizei und Gericht keine Kontrollinstanzen entgegenstehen!

Gaby dos Santos, 25.4.2023

Benedikt Toth, den ich als trotz allem überraschend positiven, zudem reflektierten und beredten Menschen kürzlich kennenlernen durfte, scheint somit über genau die Fähigkeiten zu verfügen, die ihm zu seiner vollkommenen Rehabilitation verhelfen könnten – und vielleicht so auch zu einer Änderung der juristischen Gegebenheiten beitragen.

Abschließend Ausschnitte aus einem Zitat Benedikt Toths auf „HAFTnotizen„, einer Unter-Rubrik von zweifelHAFT.org:

„Zwei Tage nachdem meine Tante getötet wurde, verlor ich mein Leben. Es war kein besonderes Leben, aber es war meins. Manch anderen hätte es nicht gefallen (…) Aber es war meins. Ich führte es und ich war zufrieden. Ich hatte alles, wovon ein durchschnittlicher Mann träumen darf. Und ich war ein durchschnittlicher Mann. Nun führe ich seit über 15 Jahren ein fremdes, mir zugeteiltes, konfektioniertes, lebensfeindliches Leben.

Und ich bin kein durchschnittlicher Mann mehr.“

Benedikt Toth, um 2021


Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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