Todesursache Flucht – Eine unvollständige Liste von Kristina Milz + Anja Tuckermann (Hrsg.), präsentiert zum Weltflüchtlingstag mit Heribert Prantl am DI, 20.6.2023 im Literaturhaus München

Das kontinuierliche Sterben auf den Fluchtrouten nach Europa muss ein Ende haben!

‼️

Dieses Anliegen stand im Zentrum vieler Veranstaltungen zum gestrigen Weltflüchtlingstag, so auch in München,  so auch im Literaturhaus.

Den unkontrollierten  Zuzug Geflüchteter, den so viele BürgerInnen fürchten (und der AfD daher steten Zuwachs bescheren) beinhaltet dieses Anliegen dabei keineswegs und hat ihn auch nie gefordertl

Das betonte Heribert Prantl, SZ-Legende, Autor, publizistisches Urgestein und gewohnt wortgewaltig. Entsprechend leidenschaftlich gestaltete er auch seine Eröffnungsrede, zu Gast bei der Präsentation einer Neuauflage des Langzeit-Buchprojekts Todesursache Flucht- Eine unvollständige Liste, erschienen im Verlag Hirnkost.de.

Im Mittelpunkt des Buches steht eine unvollständige Liste all jener, die seit 1993 auf der Flucht ums Leben gekommen sind.

Die dramatische Entwicklung der Sterberaten erschließt sich auf ersten Blick, wenn man den Umfang des Buches in seiner Erstauflage von 2018 mit dem von 2023 vergleicht, wie es Literaturhaus-Chefin Tanja Graf bei ihrer Begrüssungsrede tat. Das aktuelle Buch, 2023, ist mehr als doppelt so dick wie das Buch mit der Liste der Opfer von „Todesursache Flucht“ von 2018!

In dem Buch begnügen sich die Herausgeberinnen Kristina Milz (links) und Anja Tuckermann jedoch nicht nur damit, den Opfern durch Veröffentlichung einer (leider!) unvollständigen Liste ihre Identität zurückzugeben, sondern fügen den sachlichen Daten der Liste die Zusammenfassungen einiger Lebenslinien hinzuzufügen.

Auf diese Weise personalisieren sie die Opfer wieder und machen deren Drama für die Öffentlichkeit ein stückweit erfahrbarer.

Bei der gestrigen Präsentation verlasen die Herausgeberinnen Texte von und zu den Opfern, darunter Texte des sudanesischen Dichters Abdel Wahab Yousif Latinos.

Anja Tuckermann (rechts) erinnert an den jungen sudanesischen Dichter Abdel Wahab Yousif Latinos (Fotoprojektion)
Links Mit-Herausgeberin Kristina Milz

Angesichts der Poesie und Wucht seiner Texte fragte ich mich, was für ein literarisches Potential gemeinsam mit ihm gesunken und so der Welt für immer verloren gegangen war. Er sah es wohl auch so, denn eingeflochten im Text zu seiner Vita findet sich nachstehendes Gedicht:

Jetzt wird es schon gehen
der Tod ist nah,
und ich bereue nichts.
Ich frage mich nur
was aus all diesen Dummheiten wird
diesen Dummheiten die ich schreibe,
was wird aus ihnen
wenn ich sie allein lasse
ihr eigenes Schicksal zu suchen?
Es schmerzt mich
aufzugeben, was ich geschrieben habe
was ich geschrieben habe so im Stich zu lassen
es allein die Pein tragen zu lassen
barfuß auf spitzen Steinen.
Es schmerzt mich
dass ich nicht alles was ich wünschte sagen konnte
dass ich nicht alles auf einmal sagen konnte

Abdel Wahab Yousif Latinos im März 2020, im Buch auf Seite 286/287

Mit einer Sanduhr des Schicksals verglich Heribert Prantl die Sogwirkung, die immer dann entstand, wenn die SchauspielerInnen Sabrina Khalil und Thomas Lettow (Residenztheater), sachlich und in rascher Abfolge Auszüge aus der Liste der Todesopfer vortrugen, soweit überhaupt bekannt:

Name, Alter, Herkunftsort, Beruf, Todesursache …

Die SchauspielerInnen Sabrina Khalil & Thomas Lettow (Residenztheater)

Jede Zeile der „unvollständigen Liste“ stand in der gestrigen Lesung für ein anderes Schicksal, geeint durch das selbe traurige Ende …

(…) – Die Menschlichkeit an Land gespült –
Über den Hashtag #HumanityWashedAshore verbreitete sich das Bild innerhalb weniger Stunden bis in den letzten Winkel der Erde. Alan Kurdi: ein kleiner Körper ohne Leben, dunkelblaue Hose, karminrotes T-Shirt, winzige Turnschuhe; das Gesicht im nassen Sand. Man wird nicht vergessen, wie er dort lag, am Strand in der Nähe von Bodrum, diesem Urlaubsidyll der türkischen Mittelschicht. Alan war der Sohn von Abdullah und Rehan Kurdi, einem Ehepaar aus Damaskus. Er hatte einen Bruder, Ghalip, fünf Jahre jung, dessen Körper hundert Meter weiter angeschwemmt wurde. Auch die Mutter hat die Fahrt über das Mittelmeer nicht überlebt. (…)

> LINK zum kompletten
Porträt über Familie Kurdi Auszug aus vorliegendem Buch von Kristina Milz
Quelle: Homepage flucht.hirnkost.de

Als ich obigen Textausschnitt las und das Bild, das das Foto des toten kleinen Flüchtlingsjungen im roten Pullover sah, erinnerte ich mich wieder – werden Sie sich, werdet Ihr Euch wieder erinnern, wie erschüttert die meisten von uns damals, 2015, angesichts dieser Momentaufnahme reagiert hatten, wir, die wir doch fast alle Eltern und Großeltern oder Geschwister eines kleines, schutzbedürftigen Menschen sind, wie Alan es war.

Doch Betroffenheit neigt dazu, sich zu verlagern, wohl auch deshalb, weil man sich nicht ständig einen Missstand vor Augen halten mag, den man nicht ohne weiteres bekämpfen kann oder mag, erst recht nicht, wenn dabei die eigene Lebensqualität oder gar die eigene Kultur bedroht scheinen! Aber ich fürchte, das Spiel mit den drei Affen – nichts davon sehen, nichts davon hören, nichts dazu äußern – wird sich auf Dauer nicht gegen den Lebenskampf verzweifelter Menschen durchsetzen, denn Verzweiflung, wodurch auch immer gespeist, ist ein ganz starker Motor! Zudem: Wollen wir wirklich Europa zur Festung ausbauen, als Antwort auf eine Misere, für die unsere koloniale Vergangenheit selbst die Weichen gesetzt hat? Früher oder später werden wir wieder hinschauen müssen, ob wir nun wollen oder nicht.

Das obige Buch von Anja Tuckermann und Kristina Milz tut dies nicht nur jetzt schon – sondern bereits seit 2018. Zum Weltflüchtlingstag 2023, am 20.6.2023, um 19h, präsentieren sie im Literaturhaus München eine Neuauflage. Diese erweist sich als unverzichtbar, denn den Kern des Buches bildet eine Liste der Menschen, die auf der Flucht ihr Leben verloren haben, woher sie kamen, wohin sie des Weges waren und woran sie starben. Eine Liste des Todes, die laufend wächst! Bei Erstauflage des Buches belief sich die Zahl der registrierten Todesopfer auf 35.500, inzwischen auf über 50.000!

Der Verlag Hirnkost.de erläutert das Prinzip ihrer Sichtbarmachung auf seiner Homepage:

(…) Das europaweite Netzwerk UNITED for Intercultural Action mit Sitz in Amsterdam führt die Liste der belegten Fälle der auf der Flucht nach und in Europa gestorbenen Menschen seit 1993 unter dem Titel der „Asylsuchenden, Geflüchteten und Migrant*innen, die aufgrund der restriktiven Politik der Festung Europa zu Tode kamen“. UNITED besteht aus 550 Organisationen aus 48 europäischen Ländern – die (Unterstützung dieser Organisationen macht es möglich, die Liste weiterzuführen. (…)
> MEHR


(…) Die meisten Toten sind ohne Namen verzeichnet.

Die Herausgeberinnen Kristina Milz (rechts) und Anja Tuckermann haben einige Namen recherchiert und möchten die Menschen, die sie waren, dem Vergessen entreißen, um das Ausmaß dieser Tragödie besser zu fassen zu bekommen – und der Debatte um Flucht und Tod wieder ein menschliches Antlitz zu geben. (…)

Die Liste der auf ihrer Flucht gestorbenen Menschen wird um kurze Porträtgeschichten über einige dieser Toten ergänzt sowie durch Berichte von Überlebenden und Beiträgen (s. Gedicht am Beitragsende) unterschiedlichster Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben, wie u.a. Heinrich Bedford-Strohm (Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern / Weltkirchenrat), Carlos Collado Seidel (Universität Marburg), M. Moustapha Diallo (Publizist), Rolf Gössner (Internationale Liga für Menschenrechte),  Stephan Lessenich (Frankfurter Institut für Sozialforschung), Heike Martin (Refugio München), Yirgalem Fisseha Mehbratu (Schriftstellerin und Journalistin), Karl-Heinz Meier-Braun (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen) oder SZ-Legende Heribert Prantl.

Letzterer hatte nicht nur 2018 einen der ersten Textbeiträge für das Buchprojekt geliefert, sondern war auch bei der Präsentation der Neuauflage im Literaturhaus vor Ort und zog seine Vergleiche zwischen der politischen Stimmung von 2018 und 2023:

Unter anderem wies er auf einen Negativ-Trend in der öffentlichen Wahrnehmung hin: Sei noch 2016 Trumps Idee einer Mauer zu Mexiko mit Spott und Befremden aufgenommen worden, so sei heutzutage die Planung europäischer Grenzbefestigungen Gang und Gebe.

Auch sei ein Trend hin zu mehr mehr Radikalität bei der „Flüchtlingsabwehr“ zu beobachten.

Im Zusammenhang mit dem Langzeit-Drama um Geflüchtete sprach Papst Franziskus angesichts des Flüchtlingsdramas 2013 vor Lampedusa von einer Globalisierung der Gleichgültigkeit. Dieses Statement wurde auch gestern aufgegriffen und durch den Begriff einer Globalisierung der Mutwilligkeit erweitert. Als zudem weder politisch noch menschlich vertretbar, da stimmten alle drei DiskutantInnen überein, seien Verhandlungen mit Despoten, wie derzeit Nancy Fezer in Tunesien, um diese zu bewegen, gegen viel Geld entweder im Vorfeld die Fluchtpläne zu vereiteln oder Flüchtliche in deren Ländern abzuladen und sie, beispielsweise in lybischen Gefängnissen einem unmenschlichen Schicksal zu überlassen oder zum politischen Faustpfand eines Erdogan zu pervertieren.

Anja Tuckermann mit Thomas Ratjen, Co-Autor und Fotograf
…. und mit Gaby dos Santos

Dieses Geld sollten unsere Politik, finde ich, besser verwenden, um die Lebensbedingungen in den Heimatländern erträglich und die Fluchtrouten sicher zu gestalten.

DI 20.6.23 // 19 Uhr // LITERATURHAUS MÜNCHEN Saal

TODESURSACHE: FLUCHT

EIN ABEND MIT KRISTINA MILZ, ANJA TUCKERMANN & HERIBERT PRANTL

Lesung: Sabrina Khalil & Thomas Lettow (Residenztheater) verleihen den Geflüchteten eine Stimme …

Veranstalter: Stiftung Literaturhaus
Die Einnahmen des Abends gehen an DAS BÜNDNIS »United4Rescue«

> Literaturhaus München: Veranstaltungsseite

Auszüge aus der Liste

03.02.23 1 N.N. (Mann)
Identität unbekannt

Subsahara-Afrika, Nordafrika,

ertrunken beim Versuch, ein Baby zu retten, das von einem Boot, das 6 Tage lang von TN nach IT auf dem Meer trieb, ins Wasser gefallen war ….


02.02.23 Abubacarr Leigh

(Mann) Gambia

aus unbekannter Ursache gestorben, nachdem er auf dem Weg nach Europa vor der
libyschen Küste gerettet wurde


26.01.23 Tawfik Ali Omar Ahmed
Al-Hushibiri (31)

Jemen

in BY an der Grenze zu PL tot aufgefunden


31.12.22 N.N. (Kind; Frau)

Syrien

ertrunken; überfülltes Boot kenterte zwischen
Beirut und Tripoli vor der libanesischen Küste;


Eckdaten zum Buch

Buchcover
Kristina Milz + Anja Tuckermann (Hrsg.)
Todesursache: Flucht.
Eine unvollständige Liste

ISBN: 978-3-949452-90-1
ca. 640 Seiten,
Format 16 x 23
gebunden mit Lesebändchen, zweifarbig,
20 Euro

Erscheint zum Weltflüchtlingstag
am 20. Juni 202

im
Verlag Hirnkost.de

jetzt bestellen >> 


Schlußakkord:
Ein Textbeitrag aus dem Buch …

trauriger regen nässt deine haare,
früher war der regen dein freund,
heute dein feind .
der tod siegt,
feiert seinen strand,
die glühende sonne
wird dich am strand trocknen,
zwischen damaskus und athen
ist der faden des todes kurz.


Ausschnitt aus „Der Tod allein kennt die Stille“ – Beitrag von Suleman Taufiq aus dem Buch


Randnotiz:

Anja Tuckermanns Biografie DENK NICHT, WIR BLEIBEN HIER – Die Lebensgeschichte des Sinto Hugo Höllenreiner bildet den inhaltlichen Leitfaden zum Historical >  Nächster Halt Auschwitz, dem ersten Teil meiner Trilogie Sinti und Roma: Elegien einer deutschen Minderheit. Zur Uraufführung im Alten Rathaus in München reiste sie aus Berlin an.

Auf nachstehendem Foto ist sie mit der Münchner Kolumnistin und Societylady Marianne Wille (Dallmayr), Alexander Diepold (Geschäftsführer von MADHOUSE München) und Dokumentarfilmerin Constanze Hegetusch (BR/Lebenslinien, u.a. „Die unheilvolle Narbe„) zu sehen.


TITELBILD:

Begrüßung seitens Tanja Graf, Leiterin des Literaturhauses in München

V. links auf dem Podium:
Kristina Milz und Anja Tuckermann,
in der Mitte Publizist Heribert Prantl



Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.com

Hinterlasse einen Kommentar

Entdecke mehr von Gaby dos Santos

Jetzt abonnieren, um weiterzulesen und auf das gesamte Archiv zuzugreifen.

Weiterlesen