„Nicht Grab- sondern Schlusssteine“ … Neues zu den inzwischen über 100.000 Stolpersteinen, erläutert von ihrem Schöpfer, Bildhauer Gunter Demnig

Er empfinde die STOLPERSTEINE nicht als Grab- , wohl aber als „Schlusssteine“, äußerte ein Holocaust-Überlebender einmal gegenüber Bildhauer und Stolpersteine-Schöpfer Gunter Demnig. Ab jetzt könne er Deutschland wieder besuchen…

Es waren Schilderungen wie diese, die den Abend im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst in München so besonders machten: Einen Künstler aus der Nähe und in eigenen Worten zu erleben, der das inzwischen wohl größte dezentrale Mahnmal der Welt geschaffen hat! Seine anhand von Gravuren individualisierten Stolpersteine

(…) „erinnern mittlerweile in 1.200 deutschen Kommunen und weiteren 30 Ländern an NS-Opfer: Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, an Menschen mit Behinderung und politisch oder religiös Verfolgte“. (…)


Abbildung: www.stolpersteine.eu

Zitate: Domradio.de, Hinter jedem Stein steht ein Mensch, 26.05.2023 > MEHR

In seinen Ausführungen nannte Demnig Beispiele zu Angehörigen der unterschiedlichen Opfergruppen, deren Verfolgung durch die Nationalsozialisten nunmehr mit einem Stolperstein gedacht wird. Zwei Stolpersteine in Hamburg gelten sogar Opfern, auf die gleich drei „Verfolgungs“kriterien der Nazis zutrafen: Sie waren kommunistisch, schwul und zudem auch noch Juden. Schlimmer ging kaum, in den Augen der NS-Judikative!

Im Laufe seiner 30 Jahre an Stolpersteine-Verlegungen verschlug es Gunter Demnig sogar noch weiter nördlich als Hamburg: Auf einer kleinen Insel bei Hammerfest in Norwegen, hatte sich einst ein einzelner jüdischer Bürger versteckt gehalten, bis ihn jemand denunzierte. „Den Rest brauche ich Ihnen nicht zu erzählen„, merkte Demnig an.

KZ-Kennzeichnung „Bibelforscher“, damalige Bezeichnung für die Zeugen Jehovas; > Wikipedia

Nein, das brauchte Gunter Demnig wahrlich nicht, ebenso wenig, wie en detail über das Ende zweier Bauernsöhne in Brandenburg zu berichten. Als Zeugen Jehovas (damals noch „Bibelforscher“ genannt), verweigerten sie auf Grund ihres Glaubens den Wehrdienst, wurden ins Zuchthaus PlötzenseePlötze nach zeitgenössischem Volksmund – verbracht und hingerichtet. Dieses Schicksal ereilte, als „Politischen“, auch Johann Wild:

1941 wurde in Nürnberg der Feuerwehrmann Johann Wild von den Nazis verhaftet. Sein Vergehen: Er hatte so genannte Feindsender gehört und deren Nachrichten verbreitet. Dafür wurde er zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Christoph Leibold, BR/kulturWelt, 26.05.2023 > MEHR

Demnig bezeichnete ihn voller Empathie als „ein armes Schwein. Verurteilt wegen eines sogenannten ‚Rundfunkverbrechens‘, wurde er mit dem Fallbein in München Stadelheim hingerichtet.“ Das Schicksal wollte es, dass für ihn nun, im Mai 2023, der 100.000 Stolperstein verlegt wurde, begleitet durch einen internationalen Medienhype!

100.000 Stolpersteine!

Eine atemberaubende Zahl, insbesondere wenn man bedenkt, dass sie für 100.000 einzelne, in den Boden eingelassene Tragödien steht, ein Procedere für das Gunter Demnig alleine in Deutschland jährlich 50.000 bis 60.000 Kilometer zurücklegt! Und doch deckt diese Zahl nur einen Bruchteil der Menschen ab, die dem Holocaust zum Opfer fielen… Allerdings ist den Stolpersteinen zu verdanken, dass sie, allein durch ihr Vorhandensein, die Verbrechen der NS-Zeit nachhaltig vergegenwärtigen – und zwar weit über Deutschland hinaus! Tatsächlich reisen Nachfahren von Holocaust-Opfern aus aller Welt an, um für ihre Angehörige Stolpersteine verlegen zu lassen, in Deutschland oder in einem anderen seinerzeit von den Nationalsozialisten besetzten Land.

Dabei variiere die Akzeptanz von Stolpersteinen in den einzelnen Staaten deutlich, so Demnig bei seinen Ausführungen im Ägyptischen Museum (Foto li):

In Ungarn seien die Stolpersteine extrem beliebt, während Polen sich eher zögerlich darauf einlasse, nach vorangegangenen Forderungen einer ganzen Reihe von Dokumenten, wie technische Zeichnungen, architektonische Gutachten, etc. Allerdings beginne sich jetzt einiges zu bewegen und im nächsten Jahr rechne er mit einigen Verlegungen auch in diesem Land, so Demnig.

Eine rege Nachfrage an Stolpersteinen herrsche hingegen in Italien, von denen ein nicht geringer Prozentsatz ehemaligen Carabinieri gewidmet sei. Diese hatten sich geweigert Juden ausfindig zu machen und der Gestapo auszuliefern. Ein Umstand der mir, obwohl ich in dem Land aufgewachsen bin, bislang nicht bekannt gewesen war und mich daher besonders berührte. …

In meiner alten Heimat am Lago Maggiore:
Gunter Demnig verlegt einen Stolpersteins für Giuliano Nicolini in Stresa

Erheiternd Gunter Demnigs Anekdote zu Belarus: Anstelle von Stolpersteinen wolle die Regierung lieber selbst eine monumentale Gedenkstätte errichten. Irgendwann. Derweil warteten ca. 50 Stolpersteine in einer oppositionellen Vitrine darauf, verlegt zu werden. Irgendwann. Unter einem neuen Diktator – vielleicht. 😉

Staaten wie Frankreich und die Niederlande wiederum hätten zunächst die eigene Verstrickung in die NS-Besetzung aufarbeiten müssen, bevor sie sich richtig auf die Stolpersteine einlassen konnten. Das leuchtet ein, da die Verlegungen in der Regel vor dem letzten Wohnort des Opfers vor seiner Deportation erfolgen.

Sichtlich bewegt schilderte Demnig den Verschleiß an Taschentüchern, wenn Angehörige aus allen Kontinenten zu Verlegungen zusammenträfen, sogar Tasmanien – > Köln sei schon dabei gewesen. Kein Wunder, denn die Stolpersteine sind mit herzzerreißenden Schicksalen verbunden, nicht selten denen von Kindern, die ihre Eltern in jungen Jahren ins rettende Ausland geschickt hatten, in dem Wissen, sie nie mehr wiederzusehen…

Terry Swartzberg, Stolpersteine für München e.V., putzt 2019 gemeinsam mit meinem Enkel den Stolperstein von Dr. Anton Braun in der Münchner Franziskanerstraße43. Dr. Braun erkrankte an Schizophrenie und wurde Opfer der sogenannten T4-Verordnung, die die Ermordung von Menschen mit geistiger Behinderung vorsah

Was Jugendliche heutzutage anbelangt, so erlebt Demnig sie als wesentlich interessierter, als gemeinhin kolportiert. Vielmehr würden immer wieder Gedenkinitiativen von ihnen selbst ausgehen. Der greifbare Stolperstein um die Ecke, erleichtert, als Zeugnis gelebter Geschichte, den Zugang zur NS-Zeit mehr, als ein Schulbuch es vermag… Auch mir erging es so, als mich die erste Stolpersteine-Verlegung in München, im Juli 2016, zurück in mein langjähriges Wohnviertel Lehel führte und in mir erstmals diese Wahrnehmung des „mitten unter uns geschehen“ heraufbeschwor, die Stolpersteine so intensiv vermitteln, gerade weil sie aus dem ganz alltäglichen Einheitsgrau unser aller Trottoirs aufscheinen.

Widenmayerstr. 16 im großbürgerlichen Lehel: Gedenken an die Familie Basch und an Klara Strauss …
Verlegt bei der ersten Stolpersteine-Verlegung in München, im Juli 2016

In diesem Zusammenhang kam auch m Ägyptischen Museum wieder die – in meinen Augen wenig rühmliche – Sonderposition zur Sprache, die die Landeshauptstadt München in Bezug auf die Verlegung von Stolpersteinen einnimmt: Sie bleibt auf öffentlichem Grund verboten, bedingt durch eine starke Opposition, insbesondere seitens der Israelitischen Kultusgemeinde München und deren überaus einflussreichen Vorsitzenden Charlotte Knobloch. Diese lehnt die Stolpersteine ab, weil dadurch die Opfer erneut mit Füßen getreten würden. Das jedoch liegt meiner Meinung nach allein im Auge der BetrachterInnen, da Gedenken eine sehr persönliche und somit subjektive Handlung darstellt – die nicht „nach gusto“ von Persönlichkeiten des Öffentlichen Lebens reglementiert gehört, nur weil diese sich in der kommoden Position befinden, Druck auszuüben!

Als Beitrag zur Debatte führte Demnig – sinngemäß – an, dass man, der Argumentation der Stolpersteine-GegnerInnen folgend, den Petersdom gar nicht mehr betreten dürfte, denn dort reihe sich unter dem Fußboden Grab an Grab 😉

Dagegen argumentieren BefürworterInnen der Stolpersteine, u.a. auch der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Dr. Josef Schuster, die Stolpersteine bewirkten, dass man sich vor den Opfern verbeuge.

Man stolpert mit Kopf und Nacken“.

Definition eines Schülers gegenüber Gunter Demnig

Wie auch immer man zu den Stolpersteinen als Form des Gedenkens stehen mag, scheinen sie doch einem Grundbedürfnis vieler Menschen zu entsprechen, nach der stetig wachsenden Nachfrage an Stolpersteinen im In- und Ausland zu urteilen. Gunter Demnig selbst zeigte sich überrascht davon, welche Dimensionen inzwischen sein Kunstprojekt angenommen hat! Um mit den Verlegungen seiner Stolpersteine nachzukommen hat er sein Team bereits mehrfach erweitert.

Die ich rief, die Geister …!
Der zunehmende Erfolg der Stolpersteine als wohltuend positive Variante von Goethes Zauberlehrling



Momentaufnahmen der Veranstaltung für & mit Gunter Demnig
am 8.11.2023 im Staatlichen Museum Altägyptischer Kunst in München

Eine schlichte Projektion erläuterte das Prinzip „Stolpersteine“ während der Veranstaltung im Ägyptischen Museum.

Im Gegensatz zu vielen seiner KollegInnen, die mir über die Jahre begegnet sind, ließ Bildhauer Gunter Demnig, der Schöpfer der inzwischen weltberühmten STOLPERSTEINE, lieber sein Werk für sich sprechen, als sich in wortreichen Ausführungen zu ergehen…
Auf dem Foto rechts ist er vor Beginn der Veranstaltung zu sehen.


Meinen lieben alten Freund Terry Swartzberg, Initiator der Veranstaltung im Ägyptischen Museum in München, hält so leicht nichts auf, schon gar nicht ein Paar läppische Krücken, Relikte einer kürzlich überstandenen OP!
😉
Der vielseitige Ethical Campaigner engagiert sich u.a. seit Jahren als Vorsitzender im Verein Stolpersteine für München e.V. dafür, dass diese auch in unserer Stadt verlegt werden dürfen. Auf öffentlichem Grund ist dies bislang verboten. Aber auf dem ca. einen Meter Privatgrund rund um Gebäude in privater Hand gilt das Verbot nicht, die Einwilligung der EigentümerInnen vorausgesetzt. Daher werden seit 2017 > Stolpersteine auch in München rege verlegt
📌
> Mehr zu Terry Swartzberg breit gefächerten Engagements


Dr. Arnulf Schlüter, Leiter des Staatlichen Museums Ägyptischer Kunst in München war Gastgeber des Abends. Seit März 2022 ist er der Nachfolger der ebenfalls anwesenden Frau Dr. Sylvia Schoske, unter deren Leitung bereits erste Stolpersteine auf dem Museumsgelände verlegt wurden. Dies war möglich, weil es sich hier um ein staatliches Museum handelt, während auf öffentlichem städtischen Grund die Verlegung von Stolpersteinen nach wie vor tabu ist.

In seiner kurzen, engagierten Rede – aus Geschichte lernen – erläuterte er den Zusammenhang zwischen dem Museum, mit Kunst aus Altägypten und Stolpersteinen für Opfer der NS-Zeit: Auch dieses Gelände sei historisch belastet.

(Übrigens umfasste das gesamte Areal um das Ägyptische Museum herum zentrale Bauten des NS-Regimes, wie das Braune Haus und den ehemaligen Führerbau, der heute die Hochschule für Musik und Theater beherbergt)



Und apropos „Stolpersteine“:

Gekommen, um über den Abend zu Bloggen: Gaby dos Santos im Ägyptischen Museum; 8.11.2023

Seit ich über Terry Swartzberg vor knapp zehn Jahren von Gunter Demnigs Stolpersteinen erfahren habe und von den Steinen, die ihnen in München buchstäblich in den Weg gelegt werden, versuche ich das Projekt durch begleitende Berichterstattung in den sozialen Medien und im GdS-Blog zu unterstützen.

Zudem habe ich oft selbst an Verlegungen teilgenommen und Stolpersteine geputzt (Foto o.li), bis ich selbst im Januar 2023 zwei Stolpersteine, in der Thierschstraße im Lehel für Marie Kraft (Foto o.re) und für Johanna Kramer in der Franziskaner Straße 7 gespendet habe (unteres Foto, mit Terry, bei der Verlesung der Vita der Stolpersteine-Opfer).

Heute wurde, neben drei weiteren, der zweite Stolperstein verlegt, den ich gestiftet habe.

Es kann nämlich Jede und Jeder „HüterIn der Erinnerung“ werden und einen Stolperstein spenden, durch den eine von den Nazis ausradierte Vita namentlich und somit individuell in das Bewusstsein der Menschen zurückgeholt wird.

Ein Stolperstein kostet 136,- €. Man kann ihn für ein Holocaust-Opfer eigener Wahl, z.B. aus der eigenen Familie oder dem Freundeskreis verlegen lassen oder sich aus den Vorschlägen der Stolpersteine – Initiative aussuchen, für wen man gerne spenden möchte.

📌 Zum Procedere

Für meine heutige Wahl spielte die Nähe zum eigenen Wohnort (Franziskaner Str. 7 in München-Haidhausen, bei mir um die Ecke) eine Rolle, als auch ganz persönliches Mahnmal, das mir oft im Alltag mit der Gretchenfrage begegnen wird, wie es mit meinem eigenen Verhalten gegenüber meinen Mitmenschen bestellt ist, in puncto Toleranz, Zugewandheit und Menschlichkeit. Da kommt solcherart regelmässiger „Anstupser“ gerade recht.

Mein Post vom 15. Januar 2023
Mein für Johanna Kramer gespendeter Stolperstein (o.l.) inmitten der anderen, für die NS-Opfer aus der Franziskaner Str.7; München-Haidhausen; 15. Januar 2023

Weitere Beiträge zu den Stolpersteinen im GdS-Blog:

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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.com

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