„Fluchtforschung ist Demokratieforschung“ – Die Migrationsforscherin Judith Kohlenberger referiert beim Lunch Talk von Dr. Mirjam Zadoff im NS-Dokumentationszentrum München

„Darauf liegt kein Segen“, pflegte meine Großmutter zu kommentieren, wann immer sie Zeugin einer moralischen Verfehlung wurde – obgleich sie selbst nicht sonderlich religiös geprägt war. Doch bedarf es auch nicht unbedingt einer bestimmten Konfessionszugehörigkeit um wahrzunehmen, dass es sich auf lange Sicht empfiehlt, das Leben nach einem Minimum an moralischen Prinzipien auszurichten – wenn schon nicht aus Nächstenliebe, dann zumindest im eigenen Interesse, sonst könnten einem früher oder später Boomerang-Effekte um die Ohren fliegen! Jede Handlung zieht eine Konsequenz nach sich und hat ihren Preis. Dieses Prinzip gilt auch für die Rechtlosigkeit im Umgang mit MigrantInnen an den Außengrenzen Europas. Um die ging es im Vortrag der österreichischen Kultur- und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger, die Direktorin Mirjam Zadoff zur ersten Ausgabe des neuen Lunch Talks ins NS-Dokumentationszentrum München geladen hatte.

Li. Referentin Judith Kohlenberger, re. Dr. Mirjak Zadoff, Direktorin des NS-Dokumentationszentrum in München, beim Lunch Talk

Was uns die junge Referentin dabei darlegte, ließ mir allerdings schnell den Appetit vergehen, zu ernst gestaltet sich das Drama um die Überlebenskämpfe Geflüchteter an den Außengrenzen der EU – Vorausgesetzt, man hat sie überhaupt noch „auf dem Schirm“…. Es liegt ja nun schon wieder neun Jahre zurück, dass das Bild des kleinen Alan Kurdi weltweit schockierte. Der Flüchtlingsjunge wurde tot an Land gespült und zum Sinnbild für eine versunkene Menschlichkeit sowie verfehlte Migrationspolitik. Diese darf sich dafür einer europaweiten Erfolgsgeschichte in puncto „Verdrängen“ rühmen! Selten hielten sich die drei Affen effektiver Augen, Maul und Ohren zu, frei nach dem Motto „Aus dem Blickfeld, aus dem Land, aus dem Sinn!“ Denn Sterben lässt man die MigrantInnen anderswo. Im Zusammenhang gebrauchte Judith Kohlenberger die beschämenden Begriffe einer „Politik des Sterben Lassens“ an den „Grenzen der Gewalt“, Kohlenbergers titelgebende Doppeldeutigkeit:

Bildprojektion während des Vortrags von Judith Kohlenberger
  • Im Mittelmeer, durch verhinderte oder beeinträchtigte Rettungsmaßnahmen
  • durch eine de facto Rechtsfreiheit im Niemandsland der Grenzgebiete
  • durch Auslagerung in Staaten in denen Menschenrechte noch viel weniger gelten, als im Ernstfall bei uns, wie Libyen, Ruanda, Türkei etc.

Diese Liste von Rechtsbrüchen durch Unterlassung seitens der EU ließe sich noch fortsetzen… Nur bleiben die Vorgänge an den fernen Außengrenzen zwar zunächst unsichtbar, aber eben doch nicht ohne Folgen auch für unsere Gesellschaften, auf Grund der eingangs zitierten Wechselwirkung zwischen Handlung und Konsequenzen. So schreibt Judith Kohlenberger in einem Gastbeitrag für den SPIEGEL:

Schiffbruch im Mittelmeer: Humanitäre Katastrophe
 Foto: Chris Catrambone / MOAS.EU / picture alliance / dpa

Europa lässt zu, dass an seinen Grenzen Geflüchtete sterben und systematisch gegen geltendes Recht verstoßen wird. Diese Menschenverachtung und Geringschätzung der Gesetze kann irgendwann auf uns zurückfallen.

Gastbeitrag von Judith Kohlenberger, 19. Juli 2023, DER SPIEGEL (Bezahlschranke)

Um festzustellen, dass dieses Manko längst schon auf uns zurückfällt, bedarf es nur eines Vergleiches zwischen den in Judith Kohlenbergers Vortrag aufgelisteten, möglichen Folgen und eigenen Beobachtungen zum Status Quo der Gesellschaft, in der ich lebe… wir leben. Dass Judith Kohlenberger dieses „WIR“ bereits in einem Essay, im Vorfeld zu ihrer aktuellen Studie beleuchtet hat, zeugt von ihrem ganzheitlichen Denkansatz:

Dieser klarsichtige Essay räumt auf mit der Annahme, dass das von der Politik vielbeschworene und instrumentalisierte Wir selbstverständlich und festgeschrieben ist. Es ist vielmehr flüchtig, schwer fassbar, wandelbar– und ein ständiger Streit, den es auszuhalten gilt. Judith Kohlenberger plädiert in klaren Worten und mit Feingefühl für ein starkes, wagemutiges Wir, das Wachstumsschmerzen nicht scheut, das Unterschiede als Chance auf Weiterentwicklung und echte Teilhabe begreift.

„WIR“ – Infotext > MEHR

112 Seiten, Format 12,5 x 19,0
1 Auflage, Kremayr & Scheriau 2021
18,00 € inkl. MwSt.
ISBN: 978-3-218-01255-3 / E-Book 978-3-218-01266-9

WIR“ bildet gewissermaßen das Fundament für Judith Kohlenbergers nachfolgendes Buch „Das Fluchtparadox“ (erschienen 2022). Es beinhaltet vielseitige Forschungen zum Thema, die sich nicht allein mit den MigrantInnen befassen sondern insbesondere mit uns, als die Aufnehmenden, als Gesellschaft allgemein, als Entscheidungsträgerinnen, in ausführenden Funktionen wie FlüchtlingshelferInnen, GrenzschützerInnen, MedizinerInnen oder auch einfach als „WIR, die BürgerInnen“! Die teilweise überraschenden Forschungsergebnisse legte Judith Kohlenberger auch während des Lunch Talks ausführlich dar. Ich war fasziniert, wie doch immer wieder alles mit allem zusammenhängt, ähnlich dem berühmt-berüchtigten Reiskorn, das in China folgenreich hinfällt und daher jederzeit unter differenzierter Beobachtung stehen sollte…

Das Buch legt einerseits zahlreiche Paradoxien der gegenwärtigen Migrationspolitik schonungslos offen, andererseits bietet es die Chance, einen oft eindimensionalen Blick auf Migration und insbesondere auf die Geflüchteten selbst nachhaltig zu differenzieren.

Projektion während des Vortrags von Judith Kohlenberger im NS-Dokumzentrum, 5.3.2024

Und vor allem wird kaum jemand nach der Lektüre dieses Buches noch einen Zweifel daran haben, dass es nicht nur inhuman, sondern […] auch völlig unrealistisch ist, die vermeintliche „Festung Europa“ mithilfe immer schärfer bewachter Grenzen oder gar neuer Mauern vom Rest der Welt hermetisch abzuriegeln. 

Historiker Holger Thünemann in der FAZ, zitiert auf der Homepage von Judith Kohlenberger > LINK

Die Forschungsergebnisse zum Umgang mit den MigrantInnen spiegeln auch den – wenig erbaulichen – IST-Zustand unserer Demokratien wieder. Als Judith Kohlenberger in Folge, als Gegenentwurf zu den erstarkenden rechtsradikalen Kräften, „Demokratisierte Grenzen“ via Texttafel vorschlug, sprach sie mir zwar aus der Seele, aber angesichts der aufgeführten Unterpunkte beschlich mich kurz Resignation pur, angesichts von Schlagworten, die – zumindest momentan – für ein Utopia in Reinkultur zu stehen scheinen:

  • Mitbestimmung, Entmilitarisierung, sichere Migrationswege, Grenzen als gesellschaftliche Verantwortung, Dialog, Durchlässigkeit…

Oh weh, wie soll sich das je umsetzen lassen? Instrumentalisiert durch populistische PolitikerInnen sowie MedienvertreterInnen auf permanenter Klick- und Schlagzeilenjagd, erstickt die Debatte um den Umgang mit MigrantInnen derzeit in einem Klima existentieller Ängste, Rassismus und kultureller Vorurteile, dem absoluten Gegenentwurf zu den Vorschlägen Judith Kohlenbergers. 😦

Aber halt! Möchte ich jetzt auch noch anfangen, Zweifel an der Sinnhaftigkeit gesellschaftlicher Engagements zu kultivieren, mich nicht länger für die multikulturelle und inklusive Farbigkeit einsetzen, die unser Land ansatzweise schon bereichert? Lebe ich sie nicht selbst schon, gemeinsam mit meinen ähnlich gepolten FreundInnen unterschiedlichster Couleur? Beschreibe ich die erstrebenswerte Diversität einer postmigrantischen Gesellschaft nicht immer wieder, voller Wertschätzung, in ihren unterschiedlichsten Facetten, in Gesprächen, Texten sowie in meinen Historicals? Und mit jedem und jeder Einzelnen, die mir zuhört, meine Posts liest oder Bühnencollagen anschaut, hoffe ich, einen weiteren, wenn auch kleinen Schritt in Richtung Utopia in Multicolor beizutragen. Das ist besser als passive Untätigkeit und muss mir genügen! Schließlich bin ich ein Kind der „Love & Peace„-Generation 😉

Sicher wäre es einfacher mit der schönen, neuen Welt, gäbe es ein Rezept für gesellschaftliche Innovation via Rundumschlag, doch leider liegt die Lösung vor allem in der persönlichen Annährung, im Wandel der Zeit. Waren es zunächst die Spaghetti-Fresser, später die Kanaken, denen Volkes Vorurteile galten, so sind es jetzt die Geflüchteten – „…außer natürlich“ – wie Judith Kohlenberger anschaulich schilderte – „der Ahmed, den ihr FPÖ-wählender Vater nämlich persönlich kennt!“ 😉 Also werde ich mich weiterhin bemühen, Begegnungen zu fördern und im Rahmen meiner Möglichkeiten, in meinem Umfeld aufzuklären. Das ist nicht viel, aber ein Anfang …

Angesicht dieser Selbstvergewisserung erledigten sich im weiteren Verlauf des Lunch Talks meine „Zweifel auf dem Prüfstand“ auch wieder, ganz wie in nachstehendem Zitat aus dem Asylmagazin in Bezug auf das Buch formuliert.

Die Lektüre dieses Buches ist eine hervorragende Gelegenheit für Leser*innen, die eigenen Grundannahmen gegenüber Flucht und flüchtenden Menschen auf den Prüfstand zu stellen und mit Mitmenschen darüber ins Gespräch zu kommen.

Asylmagazin – Zeitschrift für Flüchtlings- und Migrationsrecht

Hardcover kaschiert, gebunden
240 Seiten, Format 13,5 x 21,5
1 Auflage, Kremayr & Scheriau 2022
24,00 € inkl. MwSt.
ISBN: 978-3-218-01345-1 /E-Book: 978-3-218-01346-8
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Als besonders stimmig empfand ich, dass die Veranstaltung im NS-Dokumentationszentrum München stattfand, an einem Ort also, der sich speziell der Erinnerungskultur widmet. Diese vermag die Grundvoraussetzungen sowohl für individuelle Trauerarbeit als auch für allgemeine gesellschaftliche Aufarbeitung zu schaffen und ist somit eine potentielle Quelle unverzichtbarer Heil- und Lernprozesse für eine bessere Zukunft, die uns irgendwann, vielleicht, erwartet…




Erwähnenswert im Kontext von Erinnerungskultur und Flüchtlingsdramen ist das Langzeit-Buchprojekt Todesursache Flucht- Eine unvollständige Liste, erschienen im Verlag Hirnkost.de. Es beinhaltet eine Liste jener Menschen, die seit 1993 auf der Flucht gestorben sind und denen auf diesem Weg ihre Identität zumindest ansatzweise zurückerstattet werden soll. Im letzten Sommer stellten die Herausgeberinnen Kristina Milz und Anja Tuckermann im Literaturhaus München eine aktualisierte Ausgabe vor.

Tanja Graf präsentiert im Juli 2023 im Literaturhaus die aktualisierte Version von Todesursache Flucht

Die dramatische Entwicklung der Sterberaten erschließt sich auf ersten Blick, wenn man den Umfang des Buches in seiner Erstauflage von 2018 mit dem von 2023 vergleicht, wie es seinerzeit Literaturhaus-Chefin Tanja Graf bei ihrer Begrüßungsrede tat. Das aktuelle Buch, ist mehr als doppelt so dick wie das Buch mit der Liste der Opfer von „Todesursache Flucht“ von 2018!

Am Lunch Talk „Grenzen der Gewalt“ ihrer Kollegin Mirjam Zadoff im NS-Dokumentationszentrum München nahm sie als Gast teil.




Weitere Beiträge zum Thema Migration / Flucht im GdS-Blog >


Todesursache Flucht – Eine unvollständige Liste von Kristina Milz + Anja Tuckermann (Hrsg.), präsentiert zum Weltflüchtlingstag mit Heribert Prantl am DI, 20.6.2023 im Literaturhaus München

Das kontinuierliche Sterben auf den Fluchtrouten nach Europa muss ein Ende haben! Dieses Anliegen stand im Zentrum vieler Veranstaltungen zum gestrigen Weltflüchtlingstag, so auch in München,  so auch im Literaturhaus. Den unkontrollierten  Zuzug Geflüchteter, den so viele BürgerInnen fürchten (und der AfD daher steten Zuwachs bescheren) beinhaltet dieses Anliegen dabei keineswegs und hat ihn auch…

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Neu im danube books Verlag: BBC-Korrespondent Nick Thorpe gibt den Menschen auf der Balkanroute endlich eine Stimme!

Mit der deutschsprachigen Ausgabe von „The road before me weeps. On the refugee route through Europe“ ist dem unabhängigen danube books Verlag (Ulm) ein Coup gelungen: Das Sachbuch des renommierten BBC-Korrespondenten, Autors und Filmemachers Nick Thorpe erscheint am 19.6.2020 unter dem Titel „Die weinende Straße vor mir. Entlang der Balkanroute“. Nick Thorpe leistet mit seinem…

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Mehr zu Judith Kohlenberger,
ihren Publikationen
sowie
ihrem Podcast >

judithkohlenberger.com



Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.com

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