„Dein Vater ist Italiener…“ – Sinti und Roma im Gespräch mit Münchens Zweiten Bürgermeister Dominik Krause im Rathaus

Italien verbindet man mit Amore, Mare und Musica Maestro! Zwar werden mit Musik gemeinhin auch Sinti und Roma assoziiert, vor allem aber mit einer ganzen Reihe negativer Klischees. Daher wurde und wird vorsorglich von Angehörigen der Community oft Italien als Herkunftsland angegeben, obwohl Sinti schon seit 600 Jahren in Deutschland leben! Ein Armutszeugnis für unsere bis heute diesbezüglich mangelhaft informierte Mehrheitsgesellschaft! Sich zu outen bedeutet für Angehörige der Sinti und Roma nach wie vor, dass sie gesellschaftlich und beruflich mit erheblichen Benachteiligungen rechnen müssen; ein hartnäckiger Missstand, auf den bei der kulturpolitischen Aussprache von Sinti und Roma mit Münchens Zweiten Bürgermeister Dominik Krause mehrfach hingewiesen wurde.

Unter den TeilnehmerInnen befand sich die Sinti-Politikerin Marcella Reinhardt, u.a. Vorsitzende des Regionalverbands Deutscher Sinti & Roma Schwaben e.V., die diesbezüglich schon vor Jahren bei einer Podiumsdiskussion verriet, dass sie sich früher stets als Italienerin ausgegeben habe…

An der Diskriminierung von Sinti und Roma habe sich bis heute nicht viel geändert, fügte sie nun, acht Jahre später, bei der Sitzung im Rathaus hinzu. 

Nicht zufällig vertritt Marcella Reinhardt, neben ihren anderen Ämter, Latscho Diwes, eine Antidiskriminierungsstelle des Landesverbands deutscher Sinti & Roma in Bayern.

Diese Institution eröffnete jetzt auch ein Büro in München, gleich bei mir um die Ecke, im FAT CAT, dem ehemaligen Kulturzentrum Gasteig in der Rosenheimer Straße 5, wie mir Büroleiterin Johanna Wimmer (siehe Foto links) am Rande des Rathaus-Meetings verriet.

Marcella Reinhardt brachte zudem in die Gesprächsrunde ein, dass die Familien noch immer an transgenerativen Traumata leiden. –

Und in der Tat: Der Holocaust an den Sinti und Roma wirft seine langen Schatten bis in die dritte und vierte Generation hinein. Hinzu kommen die Ausgrenzungen und Schikanen seitens der Dominanzgesellschaft, denen sich die Community, über die noch unterschwellig faschistoid geprägte Nachkriegszeit hinaus, bis in die Gegenwart ausgesetzt sieht.

Madhouse-Mitarbeiter Benjamin Adler (re) erläuterte, dass daher durch die Fachstelle für Demokratie eine Definition des Begriffs „Antiziganismus“ erarbeitet worden sei und eine enge Zusammenarbeit zwischen Madhouse München, dem Verein Romanity e.V. und Demokratie leben! bestünde, um im Schulterschluß wirksam gegen Rassismus anzukämpfen. Unter anderem wurde eine Antiziganismusstelle geschaffen, die über Romanity verwaltet und zur Hälfte über Madhouse/Benjamin Adler selbst ausgefüllt werde. 

Auch die Fachstelle für Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Menschenfeindlichkeit der Landeshauptstadt München habe inzwischen eine eigene Antidiskriminierungsstelle eingerichtet, ergänzte Leiterin Miriam Heigl.

demokratie.schule@muenchen.de
Tel. (089) 233 92642

Doch so unverzichtbar und wünschenswert solcherart Einrichtungen auch sein mögen, bedeutet ihre simple Existenz noch lange nicht, dass sie deshalb automatisch von den nachhaltig traumatisierten Minderheiten genutzt würden. Sich an eine Einrichtung zu wenden, egal an welche, bedeutet für viele Sinti und Roma noch immer, sich aus der sicheren Deckung zu begeben; der „italienische Vater“ zur Verschleierung der eigenen Identität repräsentiert nur die Spitze eines Eisbergs in Bezug auf die umfassenden Mechanismen, die die Community zum Selbstschutz entwickeln musste. Die wirken derart effektiv nach, dass sogar attraktivste Hilfsangebote drohen, daran zu scheitern.

So schilderte Gesprächsteilnehmer Radovan Ganev (untere Fotoreihe, links) selbst ein Roma bulgarischer Herkunft und Vorsitzender des Vereins Romanity e.V., wie sein Verein wochenlang nach KandidatInnen für ein Ausbildungs-/Studierenden-Stipendium suchen musste! Und auch diejenigen, die sich schließlich meldeten, berichteten Radovan, dass ihnen die Eltern abgeraten hätten, da das Stipendium explizit für Angehörige der Münchner Sinti und Roma Community ausgeschrieben war: https://fb.watch/uCqaXUjyYn/
Das Stipendium anzunehmen bedeutete daher automatisch, sich als Angehörige(r) der Minderheit erkennen zu geben und dieser Umstand wirkte abschreckend.

Leider nicht der einzige Boomerang-Effekt, den die bewusst erzeugte, mangelnde Sichtbarkeit der Community in sich birgt: Eine weitere, bedrückende Folge ist die vorschnelle und entsprechend oft unberechtigte Einstufung ihrer Kinder als Fall für die Förderschule, sei es aus mangelndem Interesse und Vorurteilen der EntscheiderInnen, sei es, weil die anders sozialisierten Kinder von Sinti & Roma durch die Raster von Eignungstests fallen, die auf die Kinder der Mehrheitsgesellschaft zugeschnitten sind, wie Alexander Diepold (links auf nachstehendem Foto) im Verlauf der Besprechung darlegte.

LINKS: Alexander Diepold, Gründer und Leiter von Madhouse mit 2 Mitarbeitern:
MITTE: Alexander Adler, Schulmediator und Schauspieler, u.a. Trilogie Sinti & Roma
RECHTS: Der chilenische  Diplom Psychologe und Leiter der Erziehungsberatungsstelle Madhouse, Aldo Rivera

Alexander Diepold obliegt die Leitung von Madhouse, dem von ihm vor nunmehr fast 40 Jahren gegründeten Familienberatungs- und Kulturzentrum für Sinti und Roma, mittlerweile angesiedelt in der Münchner Landwehrstraße 43. Selbst ein Sinto, genießt er, auf Grund seiner langen Laufbahn im Dienst seiner Volksgruppe sowie der Roma, längst deren Vertrauen – München weit und über die Stadtgrenzen hinaus.  Zum Termin bei Bürgermeister Krause begleiteten ihn unter anderen der chilenische Diplom Psychologe und Leiter der Erziehungsberatungsstelle Madhouse, Aldo Rivera, seine rechte Hand im institutionellen Gefüge (rechts auf obigem Foto) sowie Alexander Adler. Letzterer verfügt auch über eine abgeschlossene Ausbildung als Schauspieler und tritt als männlicher Protagonist in meiner Trilogie Sinti und Roma: Elegien einer deutschen Minderheit auf. Sein Bruder Benjamin und er engagieren sich außerdem seitens Madhouse als Mediatoren an Münchner Schulen.

Überhaupt stellen Förderangebote rund um das Bildungswesen nicht nur bei Madhouse ein Kernanliegen dar, sondern auch bei vielen weiteren Vereinen der Community deutschlandweit, insbesondere bei der Hildegard Lagrenne Stiftung für Bildung, Inklusion und Teilhabe von Sinti und Roma, die Alexander Diepold ebenfalls als Geschäftsführer vertritt. Deren deutschlandweites Jugendprojekt der Romno-Power Clubs betreut in München Madhouse-Mitarbeiter Johann Mettmann (nachstehendes Foto, rechts), zusätzlich zu seiner laufenden Ausbildung im Sozialbereich.

Der Münchner Romno-Power Club wächst stetig und zeigte in diesem Jahr Präsenz beim OEZ-Gedenktag, siehe unter > Wir bluten alle gleich… Ein Schwerpunkt seines Engagements bildet die stete Schaffung von „Begegnungsorten“ in Kunst, Kultur und Sport. Diese bewähren sich auch als vertrauensbildende Maßnahme, und spielen – so der allgemeine Konsens – eine maßgeblich Rolle in Bezug auf das Empowerment junger Sinti und Roma.

Ein Schwerpunkt seines Engagements bildet die stete Schaffung von „Begegnungsorten“ in Kunst, Kultur und Sport. Diese bewähren sich auch als vertrauensbildende Maßnahme, und spielen – so der allgemeine Konsens – eine maßgeblich Rolle beim Empowerment junger Sinti und Roma.

Als prägnantes Beispiel nannte Madhouse-Mitarbeiter Alexander Adler (re) die jüngst ins Leben gerufene Madhouse-Fußballmannschaft, die beim interkulturellen Fußballcup Gemeinsam Füreinander auf Augenhöhe gegen Mannschaften wie die der Münchner Polizei und der Staatsanwaltschaft kickte.

Während die Mehrheitsgesellschaft Sinti und Roma noch vielfach als Bettelmusikanten am Straßenrand verortet, sitzt Radovan Zanev im Vorstand des von ihm gegründeten Studierendenverbandes der Sinti und Roma in Deutschland und unterrichtet SoziologInnen in Spe, als Dozent an der Katholischen Stiftungshochschule München. Tatsächlich wächst auch die Anzahl der Akademikerinnen und Akademiker unter den Sinti und Roma zunehmend, eine positive Entwicklung, die sich aber längst noch nicht genug in der Öffentlichkeit herumgesprochen hat. Daher haben Radovan und ich uns für Mitte Oktober zu Fotoshooting und Interview vor der Uni verabredet, um plakativ auf diese Tatsache hinweisen.

Apropos Vorurteile, sah sich auch Alexander Diepold veranlasst zu betonen, dass die in relativ prekären Verhältnissen lebende Klientel von Madhouse nicht repräsentativ für den allgemeinen Lebensstandart der Münchner Sinti und Roma sei, sondern um einiges darunter liege.  Allerdings stößt die Madhouse gemeinnützige GmbH, nicht zuletzt auf Grund des zunehmenden Zuzugs von Roma und gepaart mit der anhaltenden Problematik geflüchteter ukrainischer Roma, dennoch zunehmend an seine Kapazitätsgrenzen…

Dass Madhouse das Vertrauen der Community genießt, bedeutet im Umkehrschluss eine kontinuierliche Steigerung des Arbeitsaufkommens, mit entsprechendem Mehrbedarf an Personal und Logistik.

Dazu siehe auch nachstehendes PDF „Tischvorlage“

Die Förderung des kulturellen Brückenschlags zwischen der Minderheit deutscher Sinti und Roma und der Mehrheitsgesellschaft, die Wohnungsnot in München, von der die Community auf Grund der hartnäckigen Vorurteile noch stärker betroffen ist, als alle anderen MünchnerInnen, die anhaltende Debatte um das geplante Denkmal etc. ..

Allein die Liste der Topics, die Alexander Diepold als Gesprächsgrundlage vorab an das Büro des Bürgermeisters übermittelt hatte, umfasst elf Punkte! Dass diese nicht annähernd in einem einstündigen Gespräch abgehandelt werden konnten, liegt auf der Hand. 

Wichtig finde ich, dass überhaupt die Gelegenheit zu einem solchen Gespräch geboten war; eine für die Community vielversprechende Geste von Dominik Krause, der sein Amt als Zweiter Bürgermeister Münchens mit einem besonderen Augenmerk auf die Situation der Minderheiten in unserer Stadt verbindet, wie er eingangs ausführte. Diese Linie des jungen und angenehm lässig auftretenden Kommunalpolitikers von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN steht mir ideell sehr nah…

Wie ernst er den Dialog mit den Münchner Communities nimmt, zeigte allein schon die Tatsache, dass er mit Alexander Diepold bereits per „Du“ ist, was auf vorangegangene Gespräche und einen entsprechend vertrauten Umgang schließen lässt.

Mein Fazit:

Dominik Krauses Einladung ins Rathaus letzte Woche bot einer kleinen Abordnung von Sinti und Roma die Gelegenheit, Belange ihrer Community vorzutragen. Dem kamen sie, ausgezeichnet vorbereitet und eloquent nach.

Wenn sie weiterhin so konsequent ihre Interessen vertreten, anhand von Kulturveranstaltungen und Social Media Präsenz zeigen und dabei ihr Image ins rechte Licht rücken, dann – da bin ich mir sicher – kann der „italienische Vater“ bald endgültig in Rente gehen 😉

Gaby dos Santos betreut seit 2016 ehrenamtlich für Madhouse KULTUR der Sinti & Roma PR und Veranstaltungen

Titelmotiv: Collage von Gaby dos Santos zum Meeting vom 12.9.2024 im Rathaus

Von vorne, links, im Uhrzeigersinn: Miriam Heigl/Fachstelle Demokratie, Silke Lode/Büro des Zweiten Bürgermeisters, Radovan Ganev/Romanity, Dominik Krause/Zweiter Bürgermeister, Marcella Reinhardt/Vorsitzende des Regionalverband Deutscher Sinti & Roma Schwaben e.V, Johanna Wimmer/Münchner Büro von Latscho Diwes, Alexander Diepold, Alexander Adler, Aldo Riveira/Madhouse München

Weiterführende Links:

Madhouse KULTUR der Sinti & Roma, HOME

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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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