„Alles wird anders, aber nichts ändert sich“: Jazz-Reminiszenzen mit einem Gastbeitrag von Jörn Pfennig

Dieses Jahr besuchte ich, nach längerer Abstinenz, wieder einmal das Jazzfest München. Für mich war es in vielerlei Hinsicht eine Heimkehr – zu den Zeiten, als ich mich der Jazz-Szene eng verbunden betrachtete. Nicht zuletzt war ich ja mit Edir dos Santos verheiratet, der viele Jahre Schlagzeuger in den Formationen des Jazz-Geigers Hannes Beckmann war. Zudem hat mich ein Großer der Münchner und internationalen Jazzszene überhaupt erst mit Jazz „angefixt“ …
Dass ich Kunst- und Kulturschaffende werden würde, wusste ich schon als Kind, mein konkreter Einstieg erfolgte jedoch über die Jazzszene, nach einem kleinen Umweg über  Münchens Bar- und Kneipenlandschaft. Nach einer behüteten Jugend in Norditalien, trieb mich damals Nachholbedarf an „wildem Leben“ um, als ich 1979 in München aufschlug. Geplant war ein Studium der Theaterwissenschaften, aus dem sich jedoch ein Intensivkurs in „Kneipologie“ entwickelte. In dieser Zeit begegnete mir Joe Haider, seines Zeichens begnadeter Jazzpianist und einer DER zentralen Figuren der Münchner Jazzszene in den 60er und 70er Jahren. Wir becherten das eine ums andere Mal in schönster Eintracht und legten damit einen hochprozentigen Paarlauf hin, der für mein weiteres Leben Weichen stellen sollte, denn damals interessierte mich Joe und Joe stand für Jazz, und so begann ich mich mit dieser Musik und ihrer Münchner Szene näher zu befassen. Beides war mir bis dato weitgehend fremd geblieben, da ich aus der „Generation Rock“ stamme, der Musik, die in den 60er und 70er Jahren den Jazz immer mehr zurück gedrängt hatte, zumal „Modern Jazz“ ja nun auch nicht gerade die „auf erstes Hinhören“ eingängigste aller Musikformen ist.

jourfixe-Blogbeitrag von Marcus Woelfle "Sepp Werkmeister, Doyen der deutschen Jazzfotografen" https://jourfixeblog.wordpress.com/…/sepp-werkmeister-doye…/
Joe Haider, der große Jazzpianist, 1970 im Domicile;
Foto: Sepp Werkmeister

Dank meinem Faible für Joe Haider jedoch nahm ich mir die Zeit, auch ein zweites und drittes Mal „hinzuhören“ und schließlich eröffnete sich mir eine neue Art von Musikerlebnis: Die konzentrierte und differenzierte Einlassung auf Klangreisen, deren Wendungen niemand vorhersagen kann, weder auf, noch vor der Bühne. Ich lernte den improvisierten Dialog der Instrumente schätzen, der sich bei Jazz-Konzerten unter den Musiker_Innen entwickelt und ihnen ein spitzbübisches Lächeln auf ihre Gesichter zaubert; ich entdeckte die Faszination gelungener Übergänge von freien Solo-Improvisationen zurück in das Zusammenspiel der Band. Im Grunde lernte ich damals bewusster „Musik hören“, eine Fähigkeit, die mir bis heute bei meinen Produktionen zugute kommt, ebenso wie die Tatsache, dass ich zwar „besser hören“ gelernt habe, dies aber zwangsläufig noch immer aus der Warte des Publikums tue, um das es ja letztendlich bei jeder Veranstaltung geht – oder, meiner Meinung nach, zumindest gehen sollte.

Die Zeit meiner Ankunft in München fiel mit dem Sterben der Münchner Kleinkunst-Szene zusammen, mit fatalen Folgen für die Künstler_Innen. Ohne Spielort keine Gigs und ohne Gigs wiederum lassen sich kein Ensemble und erst recht keine Band dauerhaft zusammen halten. Die Jazzszene traf es besonders hart: Die glamouröse Oberflächlichkeit der 80er Jahren ließ die Jazzszene, mit ihrem Anspruch an die  Zuhörerschaft, immer mehr zur kulturellen Randerscheinung schrumpfen. Schließlich ergriffen eine Reihe Münchner Jazzmusiker_Innen die Initiative zu einer Jazzmusikerinitiative, die die Situation des Jazz in München verbessern sollte. Über  das musikalische Handwerk hinaus zeichneten und zeichnen diese Jazz-Aktivist_Innen konzeptionelle, administrative und verbale Fähigkeiten aus, womit ich das virtuelle Wort nun an den Jazzmusiker, Autor und Lyriker Jörn Pfennig übergebe, der die Anfänge der Münchner Jazzinitiative mitgestaltet  und aufschlussreich zu Papier gebracht hat:

Jazzmusiker, Autor und Lyriker Jörn Pfennig, Mitbegründer von JIM, der Jazzmusikerinitiative München
Jörn Pfennig, Jazzmusiker, Autor und Lyriker Mitbegründer von JIM

Es war wohl eher die Stunde eins oder anderthalb, in der ich zu dem stieß, was sich da im Jazzclub Unterfahrt zusammenbraute, -traute, -staute. Noch namenlos, ungeordnet, liebenswürdig, aber mit grandioser Entschlossenheit, es nun endlich einmal aufzunehmen mit den Verwaltern jener exorbitanten Summen, die eine einohrig hochkulturell ausgerichtete Politik auf ein Segment ohnehin nicht darbender Bürger kübelt, während Musiker und Veranstalter, die sich der Subkultur/Abteilung Jazz verschrieben haben, ständig über den Rand der Existenz in einen feindselig gurgelnden Abgrund schauen. Das schrie nach gerechterer Verteilung, und das tat es denn auch bei den ersten Versammlungen, in denen – makellos basisdemokratisch – jeder zu Wort kam, der es nur lauthals genug vortrug. Doch eh wir’s uns versahen, hatte uns eine göttlich ordnende Hand eine Sitzungsleitung geschenkt, welche die Wortmeldungen bis ins zehnte Glied akkurat vermerkte. Das Chaos ging zurück, die Organisierung schritt fort – vorerst allerdings gut verträglich.

Um eine Initiative zu gründen, braucht es nichts als den beherzten Beschluss der Beteiligten, dass man von nun eine solche sei. Und natürlich einen Namen, der dem Außenstehenden möglichst besagt, worum es dieser Neugründung geht. JazzmusikerInitiative-München – auch einfachere Geister, als dies gemeinhin der Selbsteinschätzung von Jazzmusikern entspricht, hätten wohl zu dieser Bezeichnung gefunden, aber die Wucht des Schlichten entwickelt ja gerade auf politischem Terrain ihre besondere Kraft. Und dort wollten wir hin. Schon gab es einen Termin beim Kulturreferat, zu dem aus basisdemokratischen Gründen jeder mitkommen konnte, der sich davon einen Sinn versprach. Dieses traf immerhin auf neun Personen zu, und so herrschte beim Vorbringen unserer Anliegen haufenweise Sinn und recht wenig Platz. Da wir aber nicht nur Anliegen vorzutragen hatten, sondern auch eine preiswerte Idee, wurde aus dem Termin beim Referat ein Termin beim Referenten, dem wir besagte Idee dann sinnvollerweise bloß noch zu viert referierten.

In immer geordneteren Sitzungen hatten wir uns unterdessen nicht nur das einleuchtende Kürzel J.l.M herbeidiskutiert, sondern auch ein Projekt, mit dem wir sowohl uns, als auch dem Kulturreferat und dem Rest der Welt Gutes tun konnten: Ein Festival der Münchner Jazzmusiker, also unserer selbst, wollten wir auf die Beine stellen, aber – und das war das Schlaue daran – unter schmerzhaftem Verzicht eben dieser Unsererselbst auf ein Honorar. So zu Märtyrern geworden, musste uns der Kulturreferent Gnade erweisen, was er denn auch tat. Irgendwann, irgendwie war es dann da: das Organisationstriumvirat Hannes BeckmannRudi Martini– Jörn Pfennig. Keiner weiß genau, wie es dazu kam. Vermutlich waren es aber ganz natürliche Gründe wie überbordendes Engagement, unbezähmbarer Fleiß und eine fast schon gottlose Kühnheit. Verlockende Summen, die mancher Misstrauische für die Motivation verantwortlich wähnte, waren jedenfalls nicht in Sicht. Da der unterzeichnende Chronist ein Drittel des denkwürdigen Trios darstellte, könnte er mit Fug und Recht noch manch anderer falschen Vermutung den Garaus machen. Beispielsweise der, dass hinter der ungeheuren Effizienz dieses Teams eine ebenso ungeheure Harmonie steckte. Um dieses zurecht zu rücken, gleichzeitig der Gefahr des Anekdotischen auszuweichen und es dabei dann auch zu belassen, sei hier nur folgende Grundkonstellation grob skizziert:

Kandidat Martini läuft in den Morgenstunden zwischen neun und zehn zur Bestform auf.
Kandidat Beckmann erlebt dagegen seinen mental-kreativen Schub nachts zwischen drei und vier.
Folglich sind beide Kandidaten telekommunikativ inkompatibel und bedürfen eines Mittlers. Kandidat Pfennig bangt nun morgens viel zu frühen und nachts viel zu späten Telefonaten entgegen, die aber alle sein müssen, denn schließlich gilt es, ein Festival auf die Beine zu stellen, wie es die Welt noch nicht gesehen hat.

Flyer des 1. Jazzfests, gestaltet von Alexander Fischer
Flyer des 1. Jazzfests, von Alexander Fischer

Als am Mittwoch, den 19. September 1990 um 18 Uhr der Kulturreferent der Landeshauptstadt München das erste J.l.M.-Jazzfest eröffnete, waren für insgesamt 5 Tage insgesamt 32 Konzerte mit insgesamt mehr als 200 Musikern organisiert. Ein wunderbares, altgedientes Zirkuszelt stand auf dem Olympiagelände inklusive Versorgungstrakt in Sachen Essen und Trinken. Alles war vorhanden, was ein brausendes Fest brauchte, bloß kein Publikum – zumindest nicht in einer Anzahl, die komfortabel gewesen wäre für die ersten auftretenden Künstler. Das Gefühl war mulmig, die Parolen waren durchhaltend und der wiederholte Hinweis auf die bekannten Eigenarten des Münchner Publikums klang hilflos. Aber siehe da: allmählich füllte sich das Zelt tatsächlich bis zur Rammelvollheit, und der Stimmungszeiger landete im roten Bereich der Euphorie.
So sollte es Gottseidank dann auch bleiben. Wir erlebten aber darüber hinaus noch einen herrlichen Schub in Richtung gemeinsam erlebter Katastrophen, die einander ja näher bringen sollen. Am übernächsten Tag nämlich fing es derartig an zu unwettern, dass dem würzigen Kürzel J.l.M. alsbald die galgenhumorige Interpretation „Jazz im Morast“ zugedacht war. Da jedoch nicht nur der Regen strömte, sondern auch das Publikum, da im Zelt nicht nur der Sumpf dampfte sondern auch der Jazz, wurde es ein unvergessliches Fest.
Unvergesslich? Na ja, möglicherweise fand der eine oder andere Musikant die nachfolgenden Jazzfeste doch wesentlich erinnerungswürdiger – da gab’s dann nämlich schon eine ordentliche Gage. (Soweit der Bericht von Jörn Pfennig)

1993, nach unserer Hochzeit in Rio, schlossen Edir und ich uns J.I.M. an. Die Vereinstreffen, die damals einmal im Monat im Jazzclub Unterfahrt abgehalten wurden, beeindruckten mich. Zum ersten Mal begriff ich, dass das „Kunst schaffen“, neben der kreativen, auch eine starke kulturpolitische Komponente beinhaltet, sobald man auf Fördermittel angewiesen ist … Fasziniert lauschte ich daher den Argumentationen der Wortführer_Innen, die vom Wesen her unterschiedlicher kaum hätten sein können:

Foto von Hannes Beckmann (+ 2016) für eines der Jazzfeste
Hannes Beckmann (+ 2016) um 2000, im Programm des Jazzfests München

Der ideenreiche, aus dem Bauch agierende Jazzgeiger Hannes Beckmann, der stets dazu neigte, alles an sich reißen zu wollen, der empfindsame und erfolgreiche PR-Stratege Rudi Martini, der rhetorisch brilliante Analytiker Jörn Pfennig, der strukturierte Wolfgang Schmid, damals Erster Vorsitzender des Vereins und viele, viele mehr.

Weibliche Aktivistinnen waren – und sind es leider bis heute – in dieser Szene unterrepräsentiert. Neben Jazz-Sängerin Naomi Isaacs nahm an den JIM-Treffen hauptsächlich Sängerin Jenny Evans teil, damals bereits mitten in jener Metamorphose, aus der sie als eine von Deutschlands „Leading Jazz-Ladies“ hervorgehen sollte.

Selbst beteiligte ich mich nicht an den Diskussionen, zu neu war mir die Materie. Dafür lernte ich aber  umso mehr über kulturpolitisches Taktieren, Revier-Kämpfe und das Spannungsfeld zwischen der visionären und der konkreten Planungsphase künstlerischer Projekte. Noch mehr lernte ich über das Wesen von Künstlervereinen, deren Vorteile und Tücken; Erfahrungswerte, die in Folge in die Satzung der von mir initiierten Kulturplattform jourfixe-muenchen e.V. eingeflossen sind …

Mit der Zeit habe ich mich künstlerisch in eine andere Richtung entwickelt, aber die Erinnerung an meine überbordende  Jugend und an die ersten Berührungen mit der Künstlerwelt, bleiben mit der Jazzszene eng verbunden. Schon das Intro eines Jazz-Standards genügt mir, um mich zurück in diese swingende Phase meines Lebens zu beamen, die sich mir im Rückblick voller nostalgischer Anklänge zeigt, ganz so,  wie in dem alten Schlager „Those Were The Days my friend …“, nur eben halt gescattet statt geträllert.

Am Ende einer langen Jazznacht mit der finnischen Sängerin Tuija Lahti-Klein(rechts) und meiner Freundin Petra Windisch de Lates. Petra gehört zusammen mit Michael Wüst und Andy Lutter zum Organisationsteam der Jazzmusiker Initiative München, der wir nun schon zum 27. Mal ein solches Jazzfest verdanken
Jazzfest München 2016, Carl-Orff-Saal/Gasteig: Gaby dos Santos, Petra Windisch De Lates (JIM Vorstand) und Sängerin Tuija Komi (rechts)

So erging es mir auch kürzlich wieder, als ich das Jazzfest besuchte:

Joe Haider spielte auf dem Jazzfest 2016
Joe Haider, Jazzfest 2016

Das diesjährige Motto lautete „Legendary“ und präsentierte als ersten Programmpunkt des Abends Joe Haider, meinen indirekten Jazz-Mentor von einst . Über zwanzig Jahre hatte ich ihn weder persönlich getroffen noch auf der Bühne erlebt. Nun dominierte er als Grandseigneur den Carl-Orff-Saal und erinnerte mich zunächst nur vage an meinen Kompagnon aus den frühen 80er Jahren. Doch im Verlauf seiner Moderationen offenbarte sich wieder sein spezieller, mir noch immer vertrauter Schalk. Während ich mich in den Sound dieses spannenden Ensembles – Bläser zu Streich-Quartett – versenkte, spürte ich, dass sich diesbezüglich ein Kreis in meinem Leben geschlossen hatte, und dass es nun an der Zeit ist, den Jazz wieder stärker in mein Leben einzubeziehen, gemeinsam mit all den jazzenden Weggefährt_Innen aus den 80er und 90er Jahren, die mir – noch – geblieben sind …  Eine Art Fazit lieferte mir an diesem Abend Jörn Pfennig, den ich ebenfalls zu lange schon nicht mehr gesprochen hatte, mit einem russischen Zitat:
„Alles wird anders, aber nichts ändert sich.“


Fotos: J.I.M./Künstlerfotos aus den Programmen diverser Jazzfeste / Foto Joe Haider jung: Sepp Werkmeister / Schnappschuss Jazzfest 2016: Gaby dos Santos


Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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