Gaby dos Santos im Herbst 2020: Abschied von der Kuturplattform jourfixe-muenchen nach 21 Jahren

Es war der berühmte, an sich unbedeutende Tropfen, der mein Fass zum Überlaufen brachte und zu meiner Entscheidung führte, die künstlerische Leitung der Kulturplattform jourfixe- muenchen nach 21 Jahren abzugeben.

Gefallen ist mein Entschluss während der unterstützenden Tätigkeiten zur Diskussionsrunde „Kultur in der Krise“ von jourfixe-Mitglied Katrin Neoral,  und der Sängerin Anamica Lindig im Münchner Volkstheater; ein hochkarätiges Projekt, bei dessen Durchführung mir bewusst wurde, was die Kulturplattform jourfixe- muenchen inzwischen für Mitglieder zu leisten imstande ist, nicht zuletzt dank der in den letzten Jahren massiv ausgebauten Präsenz in den sozialen Netzwerken. Ebenso deutlich zeigte sich aber auch, dass der jourfixe-muenchenselbst nach 21 Jahren Engagement in der Münchner Kunst- und Kulturszene, noch immer an Grenzen stößt.

2010, während einer Fotosession mit Angelica Fuss zu meinem Historical „Das Lied von Lili Marleen“

Zwar hat sich, im Vergleich zur Situation von vor 25 Jahren, schon so einiges zum Positiven entwickelt, doch sollten wir Kunst- und Kulturschaffende der „Freien Szene“ noch intensiver zusammenhalten und uns um noch einiges besser organisieren! Andernfalls werden wir – selbst ohne Corona – existenziell weiter ohne Netz und doppelten Boden agieren und ständig riskieren, von Gesellschaft und Kultur-Establishment als Kunstschaffende zweiter Klasse deklassiert zu werden, die man gönnerhaft und äußerst punktuell „auch mal mitmachen lässt“, oft zu miserablen Konditionen. Dem sollte die Freie Künstlerszene entschieden, im Schulterschluss und mit Selbstbewusstsein entgegentreten! Denn unverzichtbar für das künstlerische und kulturelle Leben ist nicht allein die Hochkultur, in ihrer Funktion als Hort vollendeter künstlerischer Prozesse, sondern gleichermaßen die Freie Szene als avantgardistische Impulsgeberin. Diese Rolle kann sie jedoch, nicht zuletzt aufgrund der vielfach realitäts- und publikums fernen Kultur-Fördermodelle, nur bedingt ausfüllen. Auch diesbezüglich wären ein Umdenken und kulturpolitische Reformen dringend erforderlich! Nur zwei von vielen kulturpolitischen Betätigungsfeldern, denen ich mich mit Herzblut gewidmet habe und zwar, gemäß dem Motto „gemeinsam sind wir stark“, mittels des permanenten Ausbaus der Kulturplattform jourfixe-muenchen. Leider ist mir jedoch dabei in letzter Zeit zunehmend „die Puste weggeblieben“.

Gaby dos Santos im Englischen Garten, Herbst 2020

Daher halte ich es an der Zeit, zu gehen und dadurch den Weg für jene Erneuerung frei zu machen, ohne die keine Initiative nachhaltig zu bestehen vermag. Diesbezüglich engagiert sich, zu meiner großen Erleichterung, seit Februar 2020 ein Vorstand an der Spitze des jourfixe-muenchen e.V. , dem ich mein Lebenswerk gut und gerne anvertraue: Mit dem Schauspieler und Kulturmanager Sven Hussock als Ersten Vorsitzenden sowie dem SPD-Politiker, Hochschuldozenten und Kulturmanager Raoul Koether, als Zweiten Vorsitzenden, stehen zwei jourfixe-Mitglieder dem Verein vor, die vom Kulturbetrieb noch nicht aufgerieben wurden, wie die Kunst- und Kulturschaffenden meiner Generation. Zudem bieten sich inzwischen engagierte Initiativen wie das (Theater)Netzwerk Freie Szene München zur Kooperation an, Anlaufstellen, von denen EinzelkämpferInnen wie ich nur träumen konnten, im Münchner Kultur-Sumpf früherer Zeiten und noch ohne die Möglichkeiten sozialer Netzwerke … Für die Kontinuität des Vereins wiederum steht Schriftführerin Stephanie Bachhuber, meine Freundin und Weggefährtin erster Stunde und – last not least – sorgt die Kulturmanagerin Beatrice Starck als jourfixe-Präsidentin für ein ausgesprochenes Plus an Strahlkraft an der Spitze des Vorstands und bringt zudem, durch ihre langjährige Kulturarbeit bei der UNESCO, internationale Erfahrungen ein – sowie so einige heiße Eisen im Feuer …

Gegründet hatte ich den Trägerverein jourfixe-muenchen e.V. zunächst nur um der juristischen Form willen, zur Abwicklung von Spendengeldern und Fördermitteln, lange im Tandem mit Jon Michael Winkler, damals Musiker und Komponist.

Parallel hielt ich stetig Ausschau nach gleichgesinnten Neu-Mitgliedern für den Verein, da mir die Bedeutung von Netzwerken schon seit jeher bewusst war. Gerade dort, wo es par excellence an finanziellen Mitteln mangelt, können gegenseitige Hilfestellungen viel bewegen. Als “Selbsthilfegruppe für Kunst- , Kultur- und Medienschaffende”, bezeichnete jourfixe-Mitglied Angelica Fell, Leiterin der inklusiven Freien Bühne München, einmal unseren Verein. Zu Recht: Über viele Jahre habe ich dazu gezielt KollegInnen aus unterschiedlichsten Sparten angeworben, die gut in unseren – sehr persönlich gestalteten – Verein jourfixe-muenchen e.V. zu passen schienen und mit ihrem Know How weiteres Potential an Synergien in unser Netzwerk einbrachten. 

Entsprechend gewann der Verein zunehmend an spannenden Mitgliedern und an „Standing“, forderte mir aber auch permanent mehr Einsatz ab; das Prinzip eines ausgewogenen Gebens und Nehmens hat sich in meinem Fall nicht bewährt. Hinsichtlich seines Bestehens und zur weiteren Entwicklung des Vereins ist aber solcherart Balance unverzichtbar. Zwar arbeitet jede und jeder von uns Kunstschaffenden stets relativ am Anschlag, doch ohne ein Minimum an Bereitschaft zu Engagement macht eine Vereinsmitgliedschaft keinen Sinn …

Um solcherart Bereitschaft aufzubringen, gilt es wiederum, sich der Vorteile unseres Vereins bewusst zu sein: Ein faszinierend abwechslungsreiches Vereinsleben, dank der vielfältigen Aktivitäten der Mitglieder, mit entsprechender Außenwirkung, menschlicher wie fachlicher Zusammenhalt nach innen, ein kreativer Nährboden für neue, gerne interdisziplinäre Projekte, dazu ein funktionierendes Netzwerk weit in die Münchner Kulturszene hinein und mit überregionaler Streuung – alles Benefits, deren Realisation und Erhalt aber eben auch enormen Einsatz erfordert, Durchhaltevermögen sowie reichlich Leidensfähigkeit in Bezug auf persönliche und berufliche Attacken, „solange man“, wie   Jon Michael Winkler zu sagen pflegt, an der Spitze des Affenhügels steht.

März 2018, am Gedenktag für die Sinti & Roma, die Opfer des Nationalsozialismus in München wurden, mit dem Sinto Alexander Diepold, Gründer von MADHOUSE und Geschäftführer der Hildegard-Lagrenne-Stiftung

Mit meinem Ausscheiden kommt dieser Kraftakt jetzt auf den jourfixe-Vorstand im Alleingang zu, und ich kann in diesem Zusammenhang nur an die Solidarität aller Mitglieder appellieren. Zwar fällt damit ab sofort auch das Rundum-Sorglos-Kulturpaket im PR-Bereich weg, das ich zum Launching der neuen Homepage ehrenamtlich über zwei Jahre gewährleistet hatte, inklusive meiner kostenlosen Social-Media-Schulungen; dafür aber steht der jourfixe-muenchen e.V. aktuell besser da, denn je, nicht zuletzt dank des Engagements neuer Mitglieder wie eben Katrin Neoral > („Kultur in der Krise„) und des neuen Vorstands.

08/2020: V.li. Raoul Koether, 2. Vorsitzender jf, Sängerin Anamica Lindig, jf-Mitglied Katrin Neoral sowie Sven Hussock, 1. Vorsitzender; Foto Max Ott

Das Erreichte in die nächste Generation hinein zu bewahren und auszubauen, liegt jetzt in der Hand jeden einzelnen Mitglieds – denen ich als Ehrenmitglied verbunden bleibe.

Als bisherige künstlerische jourfixe-Leiterin danke ich den vielen UnterstützerInnen, über die vielen Jahre und sage Ihnen und Euch leise „servus“ …
Gaby dos Santos

Zur Kulturplattform jourfixe-muenchen, 1999 – 2023 siehe auch >


Nachtrag vom 12. Januar 2023 >



Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.com

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