Sinti & Roma: Elegien einer deutschen Minderheit: Persönliche und historische Vorgeschichte zur Trilogie 2023 – 2025

8.3.1943 – 13.3.1943 … Hinter diesen mageren historischen Zahlen verbirgt sich ein kollektives Drama, das mitten in München seinen Lauf nahm und doch bis heute der Allgemeinheit wenig bekannt ist. Fünf lange Tage wurden im Polizeipräsidium in der Ettstrasse 2, damals auch „Münchner Dienststelle für Zigeunerfragen“, alle Münchner Sinti interniert, bis am 13. März 1943 ihre Deportation in das sogenannte „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau folgte.

Der unzulänglichen Sachlichkeit dieser historischen Daten wollte ich zum 80. Jahrestag Stimmen, Gedichte, Bilder und Klänge hinzufügen, um so wenigstens ansatzweise ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nachzuempfinden, das für uns Außenstehende nie wirklich zu begreifen sein wird. Solcherart Annährung betrachte ich als das Mindeste und leider auch Einzige, das ich als ideellen Beitrag zu einer Wiedergutmachung leisten kann, auf die die Betroffenen viel zu lange warten mussten – und die für nicht wenige auch zu spät kam. Und wenn ich an dieser Stelle von „Betroffenen“ schreibe, dann sind nicht nur jene Sinti und Roma, Jenische und Reisende gemeint, die unmittelbar dem Holocaust zum Opfer fielen, sondern auch ihre Nachkommen, auf deren Leben sich die Traumata der Eltern und Großeltern ebenfalls ausgewirkt haben. In München findet sich kaum eine Sinti-Familie, deren Vorfahren nicht Opfer des Nationalsozialismus wurden …

Allerdings habe ich im Zuge meiner Recherchen schnell gemerkt, dass sich die Fülle der Ereignisse und das Ausmaß des an den Sinti und Roma, Jenischen und Reisenden begangenen Unrechts nicht im Rahmen einer Produktion würde abhandeln lassen.

So entstand die Idee einer Trilogie, festgemacht an drei historischen Daten, die sich in den nächsten drei Jahren zum 80. Mal jähren werden:

März 2023, August 2024 und Mai 2025
„Die Sinti – Elegien einer deutschen Minderheit“
> LINK

Möglichst vielfältige Zeitzeugnisse hoffe ich in diesem – nunmehr 3teiligen Historical zusammenfassen zu können, ergänzt durch einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft, die mir in den Händen einer neuen, selbstbewussten Generation junger Sinti und Roma wohl aufgehoben scheint.

Aus dem Famileinalbum meiner Freundin und Zeitzeugin Ramona Sendlinger, v.o. li.,Uhrzeigersinn: Ramona mit 17 – Ramonas Vater (rechts) überlebte Dr. Mengeles Experimente in Auschwitz, sein Cousin nicht- Familienfoto um 1960Ramona und ich beim Sichten von Material für das Historical

Zuversichtlich stimmt mich auch die zunehmende Bereitschaft in großen Teilen der deutschen Mehrheitsgesellschaft und öffentlichen Institutionen, das an den Sinti und Roma, Jenischen und Reisenden begangene Unrecht aufzuarbeiten, ein wertvoller weiterer Schritt in Richtung vollzogener Parität und Teilhabe.


Seit 13. März 2017, dem 75. Jahrestag der Deportation der Münchner Sinti findet alljährlich eine Gedenkveranstaltung statt, siehe nachfolgende Bilderstrecke:

Das obere Foto stammt von Fotograf Sigi Müller und zeigt eine Foto-Projektion der 1943 deportierten Münchner Familie Höllenreiner projiziert auf die Fassade des NS-Dokuzentrums München am Gedenktag, 13.3.2021
Unten links: OB Dieter Reiter mit der Romni-Künstlerin Behar Heinemann, Autorin der Biografie „Romani Rose – Ein Leben für die Menschenrechte“
Unten rechts: Großer Polit-Bahnhof mit Kanzlerin Merkel und Romani Rose zur Einweihung des Denkmals für die im Holocaust ermordeten Sinti und Roma


HISTORISCHE HINTERGRÜNDE zur Trilogie

In der Zeit des Nationalsozialismus wurde an den europäischen Sinti und Roma ein Völkermord begangen, der den brutalen Höhepunkt einer langen Geschichte von Diskriminierung und Verfolgung gegenüber dieser Ethnie bildet. Ihm zum Opfer fiel vermutlich über eine halbe Million Menschen. Verfolgt wurden damals alle, die von den Erfassungsinstanzen, einem Verbund aus pseudowissenschaftlichen und kriminalpolizeilichen Gutachtern dem „Zigeunertum“ zugeordnet wurden, diffamiert „als Angehörige einer sowohl fremdrassigen, wie auch von Geburt an asozialen Minderheit.“ Durch solcherart Deutung wurden Sinti und Roma Opfer eines doppelten, nämlich ethnischen wie auch sozialen Rassismus; für die Betroffenen ein folgenschwerer Umstand der sich noch bis weit in die Nachkriegszeit hinein auf ihre Lebensbedingungen auswirken sollte! > (…)

– Dokumente einer Bürokratie des Schreckens –
Quelle:
www.sintiundroma.org/de/auschwitz-birkenau/deportationsbefehl-himmlers/

Erste Seite des Schnellbriefs vom 29.1.1943 des „Reichssicherheitshauptamts“ zur Deportation der Sinti und Roma; Quelle > www.sintiundroma.org

Zweite Seite des Schnellbriefs vom 29.1.1943 des „Reichssicherheitshauptamts“ zur Deportation der Sinti und Roma; Quelle > www.sintiundroma.org

Am 8. März 1943 traf es alle Münchner Sinti und Roma. Sie wurden in das Polizeipräsidium in der Ettstrasse 2 verbracht, damals als „Münchner Dienststelle für Zigeunerfragen“ Sammelstelle für Transporte von Sinti und Roma aus ganz Bayern. Am 13. März 1943 folgte die Deportation in das sogenannte „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau. Für viele Sinti und Roma sollte dies eine Zugfahrt ohne Rückfahrschein werden …

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Innenansicht einer Baracke des „Zigeunerlagers“; Foto: Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma

Folter und Terror der SS, schwerste Zwangsarbeit bei völlig unzureichender Ernährung und katastrophale hygienische Bedingungen bestimmten den Lageralltag.

Die inhaftierten Menschen mussten hilflos mit ansehen, wie ihre Familienangehörigen verhungerten oder den zwangsläufig auftretenden Krankheiten wie Flecktyphus erlagen.

Von den insgesamt 23.000 im „Zigeunerlager“ inhaftierten Menschen kamen nahezu neunzig Prozent ums Leben. Vor allem die im Lager geborenen Säuglinge und die Kleinkinder hatten keine Überlebenschance. (…)“Zitate aus: > Der Lagerabschnitt B II e in Auschwitz-Birkenau: Das „Zigeunerlager“aufsintiundroma.org

„In Birkenau wussten die Kinder schon mit drei Jahren, was der Tod ist.“

Eva Fahidi, jüdische Holocaust Überlebende 

Alle, die nicht zwischenzeitlich verstorben, ermordet oder Dr. Mengeles medizinischen Experimenten zum Opfer gefallen waren, alle die man nicht zur Zwangsarbeit in andere Konzentrationslager überstellt hatte, kamen schließlich in der sogenannten „Mordnacht“ vom 2. August 1944 ums Leben:
Am 2. August um 19 Uhr wurde das „Zigeunerlager“ nach einem Befehl aus Berlin abgeriegelt. 1408 Häftlinge wurden mit dem Güterzug ins KZ Buchenwald verlegt, die verbliebenen 2897 Frauen, Männer und Kinder getötet. Da Lagerleiter Bonigut sich krankgemeldet hatte, brachte der SS-Unterscharführer Fritz Buntrock die Menschen zu den Gaskammern. Dort wurden sie in Gruppen, in Anwesenheit von Schutzhaftlagerführer Johann Schwarzhuber und des Leiters des Sonderkommandos Otto Moll ermordet.
Am Morgen des 3. August 1944 wurden noch jene, die sich zunächst im Lager hatten verbergen können, von SS-Angehörigen erschlagen oder erschossen.

„Wir hörten ein furchtbares Geschrei. Die Zigeuner wussten, dass sie in den Tod geschickt werden sollten, und sie schrien die ganze Nacht. Sie waren lange in Auschwitz gewesen. Sie hatten gesehen, wie die Juden an der Rampe ankamen, hatten Selektionen gesehen und zugeschaut, wie alte Leute und Kinder in die Gaskammer gingen. Und darum schrien sie.“ (…)Menashe Lorinczi (Häftling aus Mengeles Zwillings-Versuchsgruppe)

„Erst als sie barackenweise nach dem Krematorium I wanderten, merkten sie es. Es war nicht leicht, sie in die Kammern hineinzubekommen.“Rudolf Höß (Kommandant in Auschwitz).

Die jüdische Auschwitz-Überlebende Eva Fahidi berichtete, dass Hunde auf flüchtende Sinti und Roma gehetzt und andere mit Flammenwerfern von den Wachleuten ins Gas getrieben wurden.

MEHR im GdS-Blogbeitrag > „Nicht in der Opferrolle bleiben

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Gedenkstätte auf dem Gelände des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau

Wer überlebt hatte, kehrte traumatisiert und mitunter nach langen Odysseen auf der Suche nach Angehörigen in die Heimatstadt zurück und fand sich dort teilweise mit genau jenen ehemaligen NS-Vollstreckern konfrontiert, die wenige Jahre zuvor dessen Deportation abgewickelt hatten! Romani Rose, Bürgerrechtler und Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma äußerte kürzlich in einer TV-Dokumentation einen zutreffenden und somit zutiefst beschämenden Vergleich zu den Zuständen des deutschen Verwaltungsapparats in der Nachkriegszeit – sinngemäß –

„Stellen Sie sich vor, Eichmann hätte nach dem Krieg über die Reparaturzahlung an die jüdischen Holocaust-Opfer zu entscheiden gehabt!“

Nachstehender Brief ist von schockierender Beispielhaftigkeit:

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„Ende 1945 gab es im Münchener Polizeipräsidium immer noch eine ‚Dienststelle für Zigeunerfragen‘ – teilweise mit dem gleichen Personal wie während der NS-Diktatur. Der in dem Dokument genannte Kriminalkommissar Josef Zeiser (dort fälschlich ‚Zeisser‘ genannt) hatte den Deportationszug mit den Münchener Sinti-Familien nach Auschwitz-Birkenau im März 1943 gemeinsam mit seinem Vorgesetzten August Wutz begleitet. Zeugen sagten aus, dass die Kripobeamten ihre Opfer bei der Verhaftung und während des Transports misshandelten.

Eine Münchener Spruchkammer verurteilte Zeiser und Wutz am 12. Dezember 1947 zu zehn Jahren Arbeitslager. Doch bereits im Juli 1948 verfügte die Berufungskammer ihre Entlassung aus dem Lager und stellte im März 1949 die Verfahren ein.

BayHStA, LKA 755, PA Zeiser

Quelle von Brief und Zitat: www.sintiundroma.org >Die Deutungsmacht der Täter

Für das erlittene Unrecht in der NS-Zeit, Zwangssterilisation, Spätfolgen von KZ-Aufenthalten und medizinische Versuche, den Verlust großer Teile der Familie, erhielten die Sinti und Roma zunächst keinerlei Entschädigung, vielmehr wurde ihnen auch noch die Schuld zugewiesen:

Sie [die ‚Zigeuner‘] neigen, wie die Erfahrung zeigt, zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und Betrügereien; es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe der Achtung vor fremden Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb eigen ist


Aus dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. Januar 1956



> MEHR

In den Folgenden knapp drei Jahrzehnten änderte sich wenig an der prekären Außenseiterrolle, in die die Mehrheitsgesellschaft die Sinti und Roma nach dem Krieg erneut gedrängt hatte. Noch immer hatten sie keine oder nur minimale Wiedergutmachungen für die an ihnen begangenen Verbrechen im Dritten Reich erhalten. As perspektivlos empfanden sich viele und von der deutschen Mehrheitsgesellschaft weiterhin als „Zigeuner“ diskriminiert. 

Mit einem Paukenschlag verschaffte schließliche eine Gruppe deutscher Sinti sich und ihrem Volk am 4. April 1980 weltweite Aufmerksamkeit, als sie auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau in einen Hungerstreik trat. > MEHR

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Seite aus der Biografie > „Romani Rose – Ein Leben für die Menschenrechte“ von Behar Heinemann

Diese Aktion brachte einen Durchbruch im Kampf um die Bürgerrechte und führte im Folgejahr, 1981, zur Gründung des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma unter Vorsitz (bis heute) des charismatischen Romani Rose.

Der Verband richtete vor einiger Zeit eine Homepage ein, aus dem ich in diesem Beitrag bereits mehrfach zitiert habe und die kurz, übersichtlich und zugleich umfassend informiert:

„Rassendiagnose Zigeuner“ > www.sintiundroma.org
Der Völkermord an den Sinti und Roma und der lange Kampf um Anerkennung

https://www.sintiundroma.org/de/embed/#?secret=tSUdz5I2jG#?secret=YCkhmrXpkR


Die Berichterstattung im GdS-Blog begleitet im Zeitraum 2023 – 2025 mit erläuternden Beiträgen die Trilogie Sinti & Roma – Elegien einer deutschen Minderheit


Übersichtsseite zu
Sinti & Roma, Jenische & Reisende im GdS-Blog >


Das Titelfoto stammt von Sigi Müller und zeigt Gaby dos Santos am Eingang einer Zelle im Polizeipräsidium Ettstraße, wo die Münchner Sinti vor ihrer Deportation nach Auschwitz interniert waren. Im Hintergrund zu sehen die Theatermaske mit Perlenträne, Logo der Historicals und Blogbeiträge von Gaby dos Santos

Weitere Beiträge zum Thema „Sinti & Roma“ im > GdS-Blog

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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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