„… isch over in München!“ – Von Abrissbirnen und Räumungsverkäufen – Ein retrospektiver Stadtspaziergang von Sigi Müller, ergänzt durch Kommentare und Links von Gaby dos Santos

„Ja macht denn jetzt die ganze Münchner Innenstadt dicht?“ rief eine Passantin vor dem eleganten Bekleidungsgeschäft aus, das kürzlich Insolvenz angemeldet hat. Innen empfand ich die übliche, seltsam trostlose Stimmung, die mich immer befällt, wenn eine weitere Institution aus dem Münchner Einzelhandel dicht macht. Seltsam deshalb, weil der Schließung stets ein Ausverkauf der Sonderklasse voraus geht, der eigentlich alle archaischen Urinstinkte des Jäger- und Sammlertums in mir euphorisierend bedienen müsste. Eigentlich! Doch stattdessen beschleicht mich stets Melancholie, vermutlich, weil mit jedem Laden, jedem markanten Gegäudekomplex, jeder Kneipe, die sich aus dem Stadtbild verabschiedet, der Vorhang auch über ein Kapitel meiner eigenen Vita fällt, die seit 45 Jahren eng mit dieser Stadt verwoben ist.

Das war dann mal weg…!

…stellte kürzlich auch Fotograf und AZ-„Stadtspaziergänger“
Sigi Müller
in seiner wöchentlichen Kolumne fest und dokumentierte so einiges, was nie wieder kommen wird, nachdem es über Jahrzehnte das Flair Münchens maßgeblich mit geprägt hatte…

Text und einige Bilder seines publizistischen Nachrufs hat er mir für nachstehenden Gastbeitrag überlassen.

Dickes Merci, lieber Sigi, im Chor wehklagt es sich noch immer am stimmigsten 😉

(Den Beitrag habe ich leicht gekürzt)

Ein Stadtspaziergang im Homeoffice

Zack und dann hatte es mich auch erwischt! Corona!! – und damit musste ich einige Zeit im Bett und auf der Couch aushalten. (…) Als ich in dieser Zeit für einen Auftrag Fotos aus meinem Archiv suchte, blieb ich in der Vergangenheit hängen und ging einfach vergangene Münchner Jahre rückwärts.

Da war die Sprengung vom Agfa Turm  2008. Für mich als Fotograf war Agfa neben Kodak immer eine feste Größe und dann stand ich damals auf dem gesperrten Mittleren Ring, als mit einem lauten Rumms diese Ära zu Ende ging.

Das Schwabinger Podium, fotografiert von Sigi Müller am 29.2..12. Seit der Schließung hat die Rockmusik eine Bastion weniger in München und Dixieland sowieso: Anfang der 1980er Jahre spielte dienstags die Allotria Jazzband, mit Stardrummer Charlie Antolini!

Viel Musik ist aus der Stadt verschwunden. Das Schwabinger Podium (s. obiges Foto) wanderte nach Allach aus, das winzige Alfonsos wurde abgerissen, heute steht dort ein moderner Wohnbau.

Am 23.3.12 läutete Wirtin Gerti in ihrer Fraunhofer Schoppenstube den Feierabend nur vorübergehend ein, inzwischen ist längst ein endügltiger daraus geworden; Foto Sigi Müller

Die Fraunhofer Schoppenstube mit Wirtin Gerti musste weichen. Der Rigan Club von Richy Rigan verschwand und im letzten Jahr starb der Elvis von Schwabing auch noch selbst. Ebenso trug man die Schwabinger 7 zu Grabe (s. nachstehende Bilderserie).

In der Schäftlarnstraße schloss das Oklahoma, die Bastion für Freunde der Countrymusik.

Der Oklahoma Country Saloon, kurz „Oki“, in der Schäftlarnstraße 156 war das älteste Country- und Western-Lokal der Stadt und der gesamten Bundesrepublik. Das Lokal wurde am 9. März 1980 eröffnet, 1993 von Bruno Theil und 2006 von Ali Suchy übernommen. Der eigentliche Gründer war jedoch ein Indianer-Fan, laut Angaben von Ali Suchy. Aufsehen erregte der Tod des letzten Wirts und Country-Musikers Ali Suchy, auch Musiker der Band Westworld Company, der im Alter von 55 Jahren nach einem Konzert tot hinter dem Tresen des Lokals aufgefunden wurde.

Quelle: München Wiki > MEHR

Das Schwabingerbräu, einst Kulisse für den Film „Kehraus“ von Gerhard Polt, war dann mal weg, auch der Graf Horror Charly, der im Film mitspielte und jedes Jahr seinen Geburtstag dort mit seiner Horrorshow feierte.

24.1.2012: In der Traumstatdt Schwabing (KaulbachstraßeI) die Feier zum 83.Geburtstag der Schwabinger Gisela. Sie starb zwei Jahre später; auf dem Foto ist sie mit Wolfgang Roucka, einst Poster-König von Schwabing, mit einem legendären Galerie-Ladens am Feilitzschplatz. Letzterer ist ebenfalls Geschichte, dito das Malura Musem, die ehemalige Künstlerwohnung des Malers Oswald Malura sowie auch der Schöpfer der Traumstatdt Schwabing, Dichter Peter Paul Althaus, dem ich 2003 eine Hommage mit dem ebenfalls verstorbenen Christian Quadflieg widmete

Ganz viiiiel Schwabinger Geschichte in obigem Foto von Sigi Müller!

Das Gebäude mit der Künstlerwohnung in der Kaulbachstraße wurde renoviert und dieses Stück Geschichte endete 2012 mit der Feier zum 83 Geburtstag der Schwabinger Gisela, natürlich mit der Laterne, die heute am Wedekind Platz steht.

Li: Peter Wortmanns Portrait für Lebenslinien/BR
O: Giselas Chanson „Schwabinger Laterne

Auch zum Kaufhaussterben fand ich ein Bild: 2005, zum hundertsten Geburtstag des Kaufhaus-Riesen Hertie , fotografierte ich das komplette Personal auf den Rolltreppen. Damals war die Kaufhauswelt noch in Ordnung.

100 Jahre Hertie 23.9.05 Foto Sigi Müller – Da war die Kaufhauswelt noch in Ordnung

Sigi Müller fotografiert von Gaby dos Santos

München ist dunkler geworden, seit die besten Paradiesvögel weggestorben sind und nicht mehr schillern. Neue tauchten nicht auf, oder sie schillern anders. Eine richtige Szene sucht man vergebens. Aber so ist das. Kaum schaust du mal kurz weg, hat jemand den Königshof ausgetauscht.

Der erste und hoffentlich letzte Stadtspaziergang aus dem Homeoffice.


[Textende der Kolumne von Sigi Müller, erschienen am 19.2.2024 in der AZ]

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„… isch over!“
Kommentar von Gaby dos Santos zum räumlichen Kahlschlag in der Münchner Innenstadt

Ausverkauf total im guten alten Kaufhof am Stachus! Viele Regale standen bereits leer, auf den meisten Kleiderständern hingen nur noch bislang verschmähte Scheußlichkeiten und an den vereinzelt geöffneten Kassen drängten sich in Endlosschlangen die Kunden, gefühlt mit „Beute zwischen den Zähnen“!

Wie es den wenigen verbliebenen Angestellten vor Ort zumute sein musste, daran mochte ich gleich gar nicht denken. Jedenfalls lag eine bedrückende Spannung über dem Treiben.

Mir selbst war einmal mehr bluesig zumute, angesichts dieses weiteren Abschieds in einer Zeit nicht enden wollender Endgültigkeiten. Konsum-Reminiszenzen aus über 40 Jahren kamen mir in den Sinn, die eng mit längst abgeschlossenen Kapiteln meines Lebens verwoben sind, ebenso abgeschlossen, wie die Angebotsflut dieses Kaufhauses verebbt ist.

Das waren einst beispielsweise das extravagante Cocktail-Kleid, nur in Mieder eingeschnürt tragbar, später der samtene Strampler in noblem Bordeaux für mein freudig erwartetes Baby – und immer wieder rote Kleider für meine ganz besonderen Rendezvous, die ihre Wirkung auch niemals verfehlten, nur meist anders, als von mir erhofft 😉

Die Schultüte für Marikas Einschulung wurde hier gekauft, dito die sündhaft teure Barbiepuppe, die sie mir abschwatzte; zuletzt der senfgelbe Blazer, den ich noch nie getragen habe, weil kurz darauf mein Leben zu sehr aus den Fugen geraten war für gelbe Outfits…

Doch was hatte mich überhaupt in diesen Totalausverkauf von Waren und Erinnerungen getrieben?

Wohl der eingangs erwähnte archaische Jagdinstinkt nach dem Schnäppchen. Denn eigentlich hatte ich mir nur den dringend benötigten Selfiestick besorgen wollen, um mit verlängertem Arm, nach der pandemischen Durststrecke, fotografisch endlich wieder Kunst und Kultur zu verewigen. Doch den Stick gibt es beim Saturn, was wollte ich da bei Karstadt..
!


Mein Karstädtischer Abgesang entstand im Juli 2021, als die CORONA-Epidemie mitten in unser aller Lebensläufe gegrätscht war. Insbesondere in der Fußgänger-Zone schlossen die Einzelhandelsketten reihenweise ihre Filialen, was an sich keinen bedauernswerten Zustand darstellte, hatten sie doch zuvor den Innenstädten zunehmend Uniformität beschwert. Ob München, Frankfurt oder Bozen – überall war man dem ewig gleichen Erscheinungsbild der immer gleichen Marken begegnet, weil nur sie jene Mieten aufbringen konnten, vor denen individuell ausgerichtete Geschäfte und Familienunternehmen längst kapituliert hatten – auf Kosten des Lokalkolorits!

Den hatte zuvor schon die Kneipen-, Kleinkunst- und Clubszene Münchens eingebüßt, wie von Sigi Müller in seiner obigen Kolumne mit deprimierender Anschaulichkeit dokumentiert.

Sigis Liste von wegen „Das war dann mal weg“ könnte ich so manche kulturelle und kneipologische Institution mehr hinzufügen, die auf Grund der Förderrichtlinien der LH München längst Geschichte ist, wie beispielsweise das „Domicil“, ein Jazz-Lokal mit Renommé bis in die New Yorker Szene, überhaupt die meisten Musikbühnen, inklusive Wolfi Kornemanns „Nachtcafé“ – ganz zu schweigen vom historischen Alten Simpl, der unter Ägide von Wirtin Toni Netzle noch einmal überregional und sogar international für Furore gesorgt hatte, wie in seinen Blütezeiten um 1900! Geblieben von seiner einstigen Größe ist heutzutge gerade einmal der Name 😦

Als München noch Schwabing war, inklusive Maxvorstadt, übte das u.a. eine starke Anziehung auf junge Kreative aus aller Welt aus. Sogar Lenin schaute vorbei 😉

Doch solcherart Menschen bedürfen, über die städtischen Kulturtempel hinaus, einer lebendigen Kunst- und Kultur-Szene. Umso mehr diese einer Frittenbuden- und Coffee-Shop Landschaft weichen muss, weichen auch die Kreativen auf andere Städte aus, insbesondere auf das inzwischen wieder kosmopolitische Berlin.

Nur Nischenkultur fördern erweist sich diesbezüglich als fatal einseitige Kulturpolitik – fürchte ich.

Was nun das „ISCH Over“ in der Fußgängerzone anbelangt, so darf mittlerweile offensichtlich nicht einmal mehr mit neuen austauschbaren Kettenläden gerechnet werden. Hier ist großes Austro-Monopoly fehlgeschlagen und hat Brachen zurückgelassen, die im besten Fall von überdimensionierten Vorhängen verdeckt sind.
😦
Bleibt nur zu hoffen, dass sich die Fata Morgana aller ewig Gestrigen, von wegen „früher sei alles besser gewesen“ nicht ausgerechnet in unserer Stadt nachhaltig bewahrheiten möge!!!


Weitere Beiträge von Fotograf und Kolumnist Sigi Müller,
Münchens amtierendem Stadtspaziergänger, im GdS-Blog >

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Mehr zu Sigi Müller

www.augenblick-fotografie.com




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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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