Schlaglichter auf Haidhausen – Die neue Fußgängerzone als Freilichtbühne für Stadtteilgeschichte und Geschichten: Kunst- und Kultur, wunderbar lässig veranstaltet vom BA 5

Eine Utopie urbanen Lebens präsentierte sich mir vergangenen Samstag, mitten in der neuen Fußgängerzone Haidhausens, die sich seit Juli 2024 vom Rosenheimer bis zum Pariser Platz erstreckt: Auf Höhe der Buchhandlung Buch und Töne hatte der Bezirksausschuss Sitzreihen aufgestellt sowie gegenüber eine Musikanlage und einen Lesetisch (s. Titelbild)

Freilichtpublikum auf improvisierten Zuschauerrängen, u.a., im braunen Mantel, Christine Prunkl, stellvertretende Vorsitzende des KulturForums der Sozialdemokratie München

Nur einen Steinwurf davon entfernt liegen Drogerie- und Supermarkt für die samstäglichen „last minute“-Einkäufe, ringsherum erstreckt sich der Haidhauser Einzelhandel, der sich unverändert in individualisierter Vielfalt präsentiert, anstelle der uniformen Auslagen jener Ladenketten, die inzwischen weltweit Innenstädte ihres Charakters berauben. In Haidhausen hingegen finden sich noch originelle kleine Geschäfte, mit einem differenzierten Warenangebot, das zum Flanieren einlädt, und wo früher sich die Autos stauten, laden nun Bänke und Stühle zwischen Blumentöpfen, gleich kleinen, feinen Inseln des Müßiggangs, zum Verweilen und zum nachbarschaftlichen Plausch ein, während Kinder sich an ihren Laufrädern ausprobieren…

Dem Kommerz und der Kultur des Viertels fügte unser emsiger Bezirksausschuss nun einmal mehr das „K“ für „Kunst“ hinzu, indem er die neue Fußgängerzone in eine Freilichtbühne verwandelte, für eine Lesung mit Musik.

Drei aus dem umtriebigen Bezirksausschuss (BA) 5, Au Haidhausen: Links der Fotograf, dessen Namen ich noch nicht kenne, in der Mitte zu sehen ist Nina Reitz (SPD), rechts sowie auf dem Einzelfoto der BA-5-Vorsitzende Jörg Spengler (DIE GRÜNEN)

Abgesehen davon, dass meine Freundin, die Schriftstellerin Gunna Wendt aus ihrem neuen Roman Bei der Laterne woll’n wir steh’n lesen würde, sprach mich das Programm schon wegen der Teilnahme von Hermann Wilhelm an. Wohl kein Stadtteil kann derzeit einen solchen Chronisten sein Eigen nennen, wie seit Jahren Haidhausen, in der Person dieses Kurators, Autors und Malers, dem wir Bildbände und viele weitere Publikationen zur Geschichte des Viertels verdanken und sogar ein Haidhausen Museum!

Daher nichts wie hin, zur Weißenburger Straße, auf Höhe der Hausnummer 14, die mir nicht zufällig so vertraut erschienen war, denn sie entpuppte sich als die Adresse „der Buchhandlung meines Vertrauens“, Buch und Töne, die dem Bezirksausschuss die Bestuhlung gestellt und den Verkauf der Bücher zur Lesung übernommen hatte.

Eine Open Air Veranstaltung erwartete mich also, zwar gewagt in diesem verregneten Oktober, aber ganz in meinem Sinne, als eingefleischter Freiluft-Junkie! Dumm nur, dass mich der Outdoor Aspekt buchstäblich kalt -nun ja, kühl – erwischte, denn ich war, in Unkenntnis der Lage, zu leicht bekleidet erschienen.

Links, zwar im dünnen Regenmantel, doch immerhin „ganz rot in rot“, Gaby dos Santos mit Gunna Wendt

Doch ließ mich die Veranstaltung schnell alle Gänsehaut vergessen, bewies sie doch, dass ein fesselndes Kulturprogramm keines weiteren Schnickschnacks als Rahmen bedarf. Ein Tisch, eine Musikanlage und KünstlerInnen, die substanziell etwas zu sagen oder zu besingen hatten, reichten vollkommen aus, um nicht nur die versammelte Gästeschar zu halten, sondern zudem weitere ZuschauerInnen unter den PassantInnen zu gewinnen. So ganz nebenbei sprach insbesondere der Musikteil auch unser potentiell zukünftiges Publikum an, darunter das eine oder andere Kind, das spontan ein Tänzchen aufs Trottoir legte… Während die Erwachsenen sich nicht minder von den Textbeiträgen angesprochen fühlten. Kein Wunder, sind doch die meisten von uns Haidhauserinnen und Haidhauser eingefleischte LokalpatriotInnen, mit einem regen Interesse an allem, was unseren Stadtteil betrifft.

Hermann Wilhelm, dahinter Dr. Franz Klug und Jörg Spengler  (beide BA 5)

Dem kam die Darbietung Hermann Wilhelms definitiv entgegen, mit einer gelungenen Auswahl an Texten, die uns tief in das Herz und in die Geschichte unseres Viertels beamten: Besonders weit zurück in die Haidhauser Vergangenheit führte uns das zeitgeschichtliche Dokument eines Soldaten, der anrührend schilderte, wie er mit seinen Kameraden, hungrig und vollkommen durchnässt, „gegen den Feind“ im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 zu Felde zog. Das rief die Umstände zurück ins Gedächtnis, denen Haidhausen seine französischen Straßennamen verdankt:

Jede dieser Straßen steht für den Ortsnamen einer von den deutschen Truppen siegreich geschlagenen Schlacht…

Hintergrund: Paul Käufl, Keyboarder der Band Mango Mindset

Anhand kurzer literarischer Episoden skizzierte Hermann Wilhelm des weiteren die Entwicklung Haidhausens, vom miefigen Arbeiterkiez hin zum Künstler-, Ausgeh- und Studentenviertel, als das es ab den 1970er Jahren begann, Schwabing den Rang abzulaufen. Inzwischen geht die Tendenz leider stark in Richtung Gentrifizierung, aber das ist ein Thema für sich, das gestern unberührt blieb…

Für seinen zeitgeschichtlichen Exkurs hatte Hermann Wilhelm Beiträge von Autorinnen und Autoren gewählt, die größtenteils in Haidhausen beheimatet waren sowie publizistische Beiträge, wie der des unvergessenen Sigi Sommer, alias Blasius, der Spaziergänger, der eindringlich die Vorstadttristesse früherer Jahre schilderte, festgemacht an einem abendlichen Kinobesuch Halbstarker.

Aus der Gattung „Realsatire“ stammte wohl die AZ-Meldung aus dem Jahr !1956, in der geschildert wurde, wie, während eines nächtlichen Banküberfalls am Ostbahnhof, den Räubern selbst der Fluchtwagen gestohlen wurde 😉

Anmoderation von Dr. Franz Klug, BA-5, der Lesung von Schriftstellerin Gunna Wendt aus ihrem neuen Roman Bei der Laterne woll’n wir stehen, erschienen im Juli 2024, Penguin Verlag, ISBN:978-3-328-60316-0

Gunna Wendt wiederum beleuchtete in ihrem Vortrag den abrupten Exodus von Kunst- und Kulturschaffenden in den 1930er Jahren, ausgelöst durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten, insbesondere auch in München, als der bis dato freigeistigen Hochburg einer internationalen künstlerischen Avantgarde.

Gunna Wendt bei der Lesung, 12.10.24

Die von der Schriftstellerin ausgewählten Episoden stammten aus ihrem neuen Roman Bei der Laterne woll’n wir stehen. In der Lesung begegneten mir so einige namhafte Protagonistinnen aus früheren Biografien Gunna Wendts wieder, die nun auf gepackten Koffern saßen, wie die große Schauspielerin Therese Ghiese und deren Partnerin Erika Mann.

Und auch der Alte Simpl alias Simplicissimus durfte als Kulisse dieser melancholischen Liebesgeschichte nicht fehlen. In diesem Künstlerlokal entstand die erste kompositorische Fassung des Liedes Lili Marleen, das ab dem Zweiten Weltkrieg zu DER Ode par excellence aller Soldaten, an Liebe und Vergänglichkeit, werden sollte. Gunna Wendts Romantitel entstammt einer Textzeile, und die Handlung ist von Sängerin Lale Andersen inspiriert, deren „Brackwasser-Stimme“ dem Lied jene Schwermut verlieh, die ihm zum Welterfolg verhalf.

Mit der Idee zu diesem Buch hatte sich Gunna seit vielen Jahre befasst. Unter anderen brachte sie dieses Buchprojekt schon 2010 auf die Premiere meines Historicals „Das Lied von Lili Marleen“, zu einem Zeitpunkt, als wir uns noch gar nicht persönlich kannten! In Folge jedoch würde die „Lili“, neben Franziska von Reventlow und den Bernadottes auf der Mainau, zu einem fixen Berührungspunkt zwischen mir und Gunna werden.

Schön war es, nun erstmals Auszüge aus diesem Roman zu hören, noch dazu unter heimatlich Haidhauser Himmel!

Während ich die Freundin dabei beobachtete, wie sie im Vorfeld der Lesung, mit der ihr eigenen Gelassenheit, die Weißenburger Straße auf und ab schlenderte, ihr aktuelles Buch in der Hand, parat für die Lesung, kam mir der Gedanke, wie gut es sich fügte, dass die Veröffentlichung erst – oder vielmehr – gerade jetzt stattgefunden hatte, in einer Zeit, in der Rechtsextremismus und Krieg wieder ihre Schatten werfen…

Das richtige Buch zur – im Doppelsinn – rechten Zeit. 🥀


Äusserst innovativ

– zumindest in den Augen einer in die Jahre gekommenen Kunst- und Kulturschaffenden 😉

präsentierte sich der Musik-Act, der die Lesungen musikalisch umrahmte:

Mango Mindset mit Emmanuel Malsch (sax), Paul Käufl (keyboards), Cataldo Mocciaro (voc,dr)

(…)“ Das Musikerkollektiv um den Drummer/Songwriter Cataldo Mocciaro forscht in der Münchner Livemusikszene an bedeutenden Themen der modernen U- und E-Musik. Aktuell steht dabei die Frage, wie Stücke vom Schlagzeug aus angeführt werden, besonders im Vordergrund. Zu diesem Zweck werden bewährte Songs aus Hip-Hop und Jazz sowie Texte von Shakespeare bis Savas zerkleinert und neu arrangiert. (…)“

Quelle: Munich Song Connection > https://vote.musoc.de/contestants/mango-mindset

Auch die Arbeitsweise der Band war für mich neu. Sie würden normalerweise nur im Netz auftreten, erläuterte der Bandleader, Cataldo Mocciaro.

Schade eigentlich, denn gerade seine ausdrucksstarke Performance verströmt virtuell schwerlich die gleiche Intensität, wie wir sie am Samstag erlebten. Dafür ist die Band, dank ihres Internet-Konzepts, rund um die Uhr individuell abrufbar…

Begleitend zu ihrem Gig hatten sie einen QR-Code aufgehängt, anhand dem das Publikum eingeladen war, die Playlist der Band aufzurufen und sich Titel auszusuchen. Doch offensichtlich tat nicht nur ich mich mit dieser fortschrittlichen Methode schwer, so dass erst ganz am Ende des Auftritts Musikwünsche an die Band gemailt wurden… Mir jedenfalls gefiel diese Darbietung, die zudem eine stimmige Soundbrücke zu den beiden Leseblöcken herstellte und werde zu dieser Band nachrecherchieren.

Nostalgie gemischt mit progressiven Klängen und Heimatkunde der gehobenen Art, das Ganze nahtlos eingebettet in das Treiben eines Samstag Nachmittags! Innerstädtisches Leben vom Feinsten spielte sich in einer Fußgängerzone ab, die für mich definitiv eine weitere Bereicherung unseres Viertels darstellt! Hoffentlich dauerhaft, mit noch vielen Kulturnachmittagen wie diesem! Merci, BA-5!


Apropos Haidhausen:

In der geistigen Nachfolge des oben erwähnten Sigi Sommers, alias  Blasius, der Spaziergänger, steht der Foto-Journalist Sigi Müller, alias AZ-Stadtspaziergänger. Da er um die Ecke unseres Viertels wohnt, widmet er sich ihm des Öfteren… per pedes, wie auch schriftlich…



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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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