22 Stimmen für 22 Minuten kostbaren Erinnerns – Impressionen der Premiere von „RITUAL“, einem Dokumentarfilm von Bahre Srebrenica, produziert von ausARTen – Perspektivwechsel durch Kunst, ergänzt durch Zitate aus einem Post von Erkan Inan
„Was machen wir, wenn wir jemanden verlieren, den wir lieben?“, lautete die Frage, die mich an diesem verregneten Sonntag Mittag aus meiner kuscheligen Mansarde ins Nasskalte gelockt hatte und weiter zur Matinee ins City Kino.
Beleuchtet wurde diese maßgebliche Frage im 22-minütigen Dokumentarfilm RITUAL von Bahre Srebrenica, in dem sich 22 Kunst- und Kulturschaffende aus aller Welt zu Wort melden – und Erinnerungsrituale schildern. Aus sehr persönlicher Perspektive zeigen sie auf, wie sich Trauer zu Bewegung, Erinnerung und Schöpfung sublimieren lässt.
Ein filmisches Mosaik über das Erinnern als Handlung, über Rituale, die uns Halt geben – und über das Atmen als zarteste Form des Weiterlebens.
Im Film treten Rituale zutage, die mich nicht nur mit weltweiten Formen menschlicher Trauer- und Verlustbewältigung konfrontierten, sondern auch von historischen Katastrophen zeugen, die mir bis dato vollkommen unbekannt waren.
So greift eine Bengalin – tänzerisch im Film und live berichtend – die verheerende Hungersnot von 1943 in ihrer Heimat auf. Die Zahl der Hungertoten wird auf 1,5 bis 4 Millionen geschätzt. > (…) Und doch hatte ich nie zuvor davon gehört!
Ein Umstand, der einmal mehr vor Augen führt, wie wichtig Erinnern und Gedenken sind, nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Aufklärungsarbeit.!
Ebenfalls allgemein kaum bekannt ist ein in der tscherkessischen Erinnerungskultur verwurzeltes Tabu: Das des Verzehrs von Fisch aus dem Schwarzen Meer.
„Im Kaukasus erinnern traditionelle „Tänze der Trennung – Ağlatan Qafe“ an diejenigen, die gezwungen waren, für das russische Reich zu kämpfen, und verkörpern Abschiede zwischen Menschen, die sich nie wieder begegnen werden. (…)“
Das tscherkessische Paar führte später auch live einen Tanz aus der Heimat vor
Das breite Spektrum zwischen „Andere erinnern an“ und „sich selbst erinnern durch“ beleuchtet im Film Mirjam Zadoff, die Leiterin des NS-Dokumentationszentrum München. In letzterer Funktion spielt sie eine große Rolle in der historischen Erinnerungskultur Münchens, der ehemaligen „Hauptstadt der Bewegung„. Und zugleich schilderte sie, wie sie das Ritual des abendlichen Vorlesens für ihre Kinder, an die Zeit erinnerte, als ihr Vater einst ihr selbst vorlas…
Zu Wort meldet sich in der Dokumentation auch Erkan Inan, der „Primus inter pares“ des multikulturellen ausARTen-Teams, der in einem Facebook-Post erläutert:
„Wir sind Menschen mit kulturerweiterten Biografien, Brüchen, Dialekten, rassismuserfahrenen Körpern, postmigrantischen Blicken und einem intuitiven Verständnis dafür, was Erinnerung bedeutet — weil wir selbst so viele Erinnerungen tragen. (…)“
Ideale Voraussetzungen für die Produktion eines solchen Films, der Inhalte vermittelt und zugleich zutiefst emotionalisiert. Dadurch regt die Dokumentation unweigerlich zum Nach- und Weiterdenken an.
So verwundert es mich im Nachgang nicht, dass bereits im Vorfeld Erkan einen sehr intensiven Post auf Facebook absetzte, aus dem ich ausschnittsweise zitiere:
Erkan Inan über den Dokumentarfilm „RITUAL“
Es gab Momente, in denen Kornelio Papic (unteres Foto, li. mit Bahre) und ich nicht verstanden, warum Bahre diesen Film so aufbaut:
22 Stimmen in 22 Minuten, aneinandergereiht wie Fragmente, Erinnerungen, Atemzüge.
Erst mit der Zeit wurde klar:
Diese 22 Menschen kommen aus unterschiedlichen Ritualtraditionen, Lebensrealitäten, Verlustgeschichten und politischen Kontexten.
Manche erinnern durch Tanz
Manche durch Bildung
Manche durch Wiederholung
Manche durch Kunst
Manche durch politisches Handeln
Manche durch das Schweigen
Manche durch Geschichten, die sie von ihren Eltern geerbt haben.
Manche durch kleine Gesten, die nur sie verstehen.
Sie alle verbindet nur eines: Sie versuchen, das Unhaltbare zu halten. Sie sind 22 unterschiedliche Wege, gegen das Vergessen anzuleben.
Genau darin entstand das Herz des Films. Die Geschichte, die Bahre in sich trug…
Sie brachten ihre Tänze und Geschichten mit – auf die Leinwand und in den Kino-Saal: Links das tscherkessische Paar, rechts die Tänzerin aus Bangladesch
Und dann ist da Bahres eigene Geschichte — der Kern von allem. Ein Nachruf. Eine Hommage. Ein leises: „Ich vermisse dich, Vater.“
Er sagte einmal:
„Fast 22 Jahre sind vergangen, Vater. Ich habe diesen Film gedreht, voller Fragen, die ich dir nie stellen konnte. Da ich diese Gelegenheit nicht mehr bekomme, ist dies das Nächstbeste.“
Sein Vater war jüdischer Herkunft, aus einer Familie, die im Bosnienkrieg ermordet wurde, weil man annahm, sie seien muslimisch. Seine Mutter ist muslimisch.
Bahre trägt beide Linien, beide Wunden, beide Erinnerungsuniversen in sich.
Nach dem Krieg kehrte sein Vater gebrochen zurück. Er sagte nur eines :„Geh nicht in den Krieg. Nimm die Kamera. Sammle Erinnerungen.“
Bahre tat das. Er gründete filmb, gewann Preise mit „Biciklo“, erzählte Geschichten, die bleiben.
Aber eines konnte er nie: Abschied nehmen. Dieser Film ist sein Versuch — ein spätes Gespräch, geführt mit Bildern statt mit Worten.
Warum die Premiere am 7. Dezember sich wie Fügung anfühlt? Als wir das Datum festlegten, sagte Bahre nur leise:„Das ist der Geburtstag meines Vaters.“ 22 Jahre nach seinem Tod. 22 Stimmen. 22 Minuten.
Es fühlte sich nicht geplant an. Es fühlte sich richtig an. Wie ein Kreis, der sich schließt.(…)🫂 Und vielleicht gibt es tatsächlich keine Zufälle…
Als für mich richtig empfand ich auch das Umfeld, in dem die Filmpremiere stattfand: Ich – gefühlt eine von höchstens einer Handvoll älterer ZuschauerInnen – saß inmitten einer jener ausgesprochen multikulturellen Wohlfühlblasen, in die ich mich zunehmend begebe, da ich den Rechtsruck in wachsenden Teilen der Bevölkerung einfach nicht nachvollziehen kann, weder im historischen, noch im politischen und erst recht nicht im menschlichen Kontext.
Niemals möchte ich auf die üppige Mitgift einer multikulturellen und diversen Gesellschaft verzichten müssen..!
Heute schenkte sie mir einen Film, so reich an schicksalsträchtigen Verwicklungen von Menschen und Geschehnissen weltweit, dass er in mir eine Fülle an Gedanken und Gefühlen ausgelöst hat, die mich, jetzt weit nach Mitternacht, noch immer an den Schreibtisch fesseln…
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Veröffentlicht von Gaby dos Santos
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