Eine Soiree auf Tuchfühlung mit der Utopie Schwabings: Impressionen, Gedanken und Begegnungen zum Schwabinger Kunstpreis 2025 – Ausgezeichnet wurden das „ausARTen“ Festival, die Buchhandlung „glitch“ sowie die Schriftstellerin Susanne Roeckl
Schwabing sei ein Zustand, befand einst die Literatin Franziska zu Reventlow und sprengte mit dieser Aussage die topografischen Grenzen dieses Stadtteils ins Ideelle. Als Ikone der dortigen Bohème um 1900, trug „Fanny“ maßgeblich dazu bei, dass sich der Name dieses Viertels zum Synonym eines Shangri Las für zukunftsorientierte Kunst und Kulturschaffende entwickelte, im Kielwasser einer emanzipatorischen Jugendbewegung.
Eine zweite Glanzzeit erlebte Schwabing dann ab Anfang der 1960er Jahre, als sein Image eines Hortes unkonventioneller Lebensart erneut Kreative jeglicher Couleur anzog. Damals wurde auch der Schwabinger Kunstpreis erstmals ausgelobt und an den Dichter P.P.Althaus verliehen, der seinerseits eine weitere Schwabinger Kultur-Institution mitbegründete, den bis heute umtriebigen Seerosenkreis.
An der Spitze der literarischen Sektion des Seerosenkreises stehen aktuell:
die Journalistin, Autorin und „leidenschaftliche, freie Malerin“ Petra Hermann (Foto)
Dr. Franz Klug, gelernter Buch-, Kunst- und Musikalienhändler, der zudem in Innsbruck Philosophie, Psychologie und Pädagogik studierte und ein „begeisterter Büchermensch und Stadtflanierer“ ist
die Schriftstellerin, Biographin und Ausstellungsmacherin > Gunna Wendt
Das Führungsteam des Seerosenkreises war wiederum 2025, zum nunmehr zweiten Mal, mit der Ausrichtung des Schwabinger Kunstpreises betraut, mit dem ebenfalls historischen Münchner Künstlerhaus als kongenialem Austragungsort. So haben sich auf stimmige Weise Kreise geschlossen und dabei einmal mehr die Utopie Schwabings aufgegriffen, dessen Geist seit jeher nicht nur für stadtgeschichtliche Nostalgie, sondern insbesondere für Aufbruch steht, geprägt von den Ingredienzien der jeweiligen Zeit! Die heutzutage stammen aus dem unerschöpflichen Fundus der multikulturellen Mitgift unserer BürgerInnen mit Migrationshintergrund und liefert vielfältig bereichernde Impulse, von der sowohl Gesellschaft und als auch Kreativszene profitieren.
Doch nicht nur die kulturellen Importe, sondern auch Lebensentwürfe jenseits des Mainstreams und damit einhergehende Engagements verheißen gesellschaftspolitisches Potential:
Mit „gelebter Hoffnung,“ assoziiert MdL Katharina Schulze den Glitch Buchladen München, der sich selbst als „Kollektiv.Unkommerziell.Queerfeministisch“ präsentiert und dessen Kollektiv einen von drei Schwabinger Kunstpreisen 2025 erhielt.
Die Laudatorin ist Fraktionsvorsitzende der GRÜNEN im bayerischen Landtag und selbst Tochter einer Buchhändlerin. Mit solcherart Hintergrundwissen ausgestattet, befand sie die Entscheidung, heutzutage eine Buchhandlung zu eröffnen, als „mutig“.
Das dürfte eine Unterreibung in Reinkultur sein! Insbesondere angesichts eines Konzepts, das sich deutlich jenseits des kommerziellen Mainstreams positioniert:
„Als wir im Sommer 2023 hörten, dass der erste Frauenbuchladen Deutschlands schließen soll, wurden wir nervös. Wieder soll ein politischer, feministischer Ort in München von der Bildfläche verschwinden? Das Patriarchat ist doch noch gar nicht überwunden! Und wieder soll ein inhaber*innengeführter Buchladen schließen? Noin, solche Orte brauchen wir doch! Kurzerhand haben wir, Stine, Johanna, Nadine und Sebastian, beschlossen, dass wir den Laden erhalten wollen. >(…)„
3.11.2025, Erkan Inan, Vorsitzender von ausarten – Perspektivwechsel durch Kunst, dem prämierten Festival-Team, hält die Dankesrede; Foto: Thomas Niederbühl
Für gelebte Hoffnung, im Sinne einer offenen und inspirierten Stadtgesellschaft, steht auch das multikulturelle Team des Festivals ausARTen – Perspektivwechsel durch Kunst, das in diesem Jahr ebenfalls den Schwabinger Kunstpreis erhielt, in seiner Eigenschaft als…
„Kunstfestival, das die radikale Vielfalt der postmigrantischen Stadt München feiert. ausARTen ist im Herbst 2016 in der Altstadt-Moschee Münchner Forum für Islam e.V. (MFI) entstanden und ein Projekt des MFI (…)“
So aussagekräftig wie der Name des Festivals, so lang reicht dessen Atem! Nunmehr im‼️10. Jahr – einer für Kulturverhältnisse geradezu biblischen Zeitspanne – bildet das Programm die kulturelle Bandbreite unserer postmigrantischen Gesellschaft und ihrer vielfältigen Communities ab, setzt sich mit interkulturellen Problemen auseinander sowie mit prägenden, zeitgeschichtlichen Ereignissen in den Herkunftsländern. So entstand beispielsweise zum 30. Jahrestag des Massakers von Srebrenica eine beeindruckende Ausstellung mit Rahmenprogramm in der Münchner Karmeliterkirche, mit einer abschließenden Filmpremiere, RITUAL von Bahre Srebrenica, im Dezember 2025.
Für jedes einzelne Opfer steht eine kleine Keramik-Tasse und erinnert an die über 8.000 Menschen, die daraus den Kaffee, den Hinterbliebene einschenken, nie mehr werden trinken können, weil sie, genau fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, in Srebrenica selbst Opfer eines Verbrechens an der…
Als primus inter pares im ausARTen Team agiert Erkan İnan, dem es gelungen ist, ein Konglomerat junger Menschen unterschiedlichster Konfessionen, Kulturen und Persönlichkeiten in einem Team zusammenzuführen, das den Slogan „München ist bunt!“ im allerbesten Sinne verkörpert!
Erkan Inan und sein multikulturelles Team sitzen als PreisträgerInnen in Reihe EINS im Festsaal des Münchner Künstlerhauses, ganz rechts Gina Penzkofer (Habibi Kiosk/Münchner Kammerspiele), Laudatorin der Gruppe, in Reihe 2, Mitte: Dr. Michael Stephan, langjähriger Leiter a.D. des Münchner Stadtarchivs und bekannte Persönlichkeit er Münchner Kulturszene
Als I-üpfelchen zum ausARTen-Kollektiv erwies sich bei der Preisverleihung deren Laudatorin Gina Penzkofer (auf obigem Foto rechts außen), respektive ihre mitreißende Rede. Daher bat ich sie im Nachgang, mir Ausschnitte für diesen Beitrag zu überlassen:
Auszüge der Laudatio von Gina Penzkofer
„(…) Ich denke, dass ist euer größtes Gut: Es geht nicht um Geniekult, nicht um Einzelgänger*innen. ausARTen ist ein Zusammenschluss von feinfühligen, klugen, wissbegierigen Menschen, die entschlossen sind, etwas gemeinsam zu bewegen – und das auf einem außergewöhnlichen Niveau. (…)
Denn ihr seid überzeugt: Eine plurale Gesellschaft braucht einen pluralen Blick – in die Vergangenheit, in die Gegenwart und in die Zukunft und das geht am besten durch Kultur und Bildung.
„Perspektivwechsel durch Kunst“ – das ist euer Leitsatz, den ihr praktiziert, nicht als Feigenblatt, sondern als Dauerzustand. Wie erleichternd, wie bekräftigend ist es, wenn eine solche Haltung nicht nur auf einer Website steht, sondern künstlerische Praxis wird. (…)
Gina Penzkofer (Habibi Kiosk/Münchner Kammerspiele) während ihrer vielbeachteten Laudatio für das Kollektiv von ausARTen – Perspektivwechsel durch Kunst, Foto: https://ausarten.org/
(…) Eure Arbeit kann man beschreiben, aber man sollte sie vor allem erleben. Denn sobald man euch begegnet, bekommt alles – Eure Haltung, Euer Mut, Eure Wärme – eine Kraft, die ansteckt. Dann ist da das ausARTen-Gefühl, das einem echten Mut macht und das Herz weicher werden lässt. … München redet gern über Vielfalt. Ihr überprüft, ob sie echt ist. Ihr seid nicht das bunte Beiwerk, Ihr seid das kritische, lebendige Gewissen der Stadt. (…)
Wie passend also, dass Ihr heute den Schwabinger Kunstpreis erhaltet: Hier begann der künstlerisch-gesellschaftliche Aufbruch, bei Euch geht er im besten Sinne weiter. Ihr bereichert diese Stadt.
Weil Ihr zeigt, was München sein kann – offen, neugierig, solidarisch. Weil Ihr Bilder schafft, die Realität verändern können, wenn wir sie nur oft genug sehen. (…)
Und vielleicht seid Ihr Eurer Zeit ein bisschen voraus. Wie Ihr kulturelle Teilhabe praktiziert, wirkt manchmal fast futuristisch. Aber genau so könnte die Zukunft aussehen – eine, die wir uns dringend vorstellen sollten.
Stadtdirektor Max Leuprecht verleiht den Schwabinger Kunstpreis 2025 an ausARTen
Fotos: Gaby dos Santos tauscht sich mit Gina Penzkofer, der künstlerischen Leiterin des Habibi Kiosks über deren gelungene Laudatio aus; 3.11.25/Eingangshalle im Münchner Künstlerhaus
Die Qualität der Laudatio führe ich auf Gina Penzkofers thematische und ideelle Nähe zum Konzept von ausARTen zurück, denn der jungen Theaterschaffenden und Dramaturgin obliegt die künstlerische Leitung des Habibi Kiosks, einer Einrichtung der Kammerspiele München, die so einige synergetische Berührungspunkte mit dem prämierten Festival aufweist:
„Habibi Kiosk: Hier strömt alles rein und raus, was Kultur ist. ‚Wer oder was ist die Stadt?‘ Im Kunst-Kiosk erforschen wir die Frage, wie eine Gemeinschaft mit aktiver Teilhabe funktioniert. Der Habibi Kiosk ist ein durchlässiges Fenster in die Kammerspiele. Ein Raum für viele Perspektiven, für Gespräche, Austausch und Zusammensein. Obendrauf gibt es Performance, Ausstellungen, Wohnzimmerkonzerte und mehr. (…)“
„Der Habibi Kiosk ist ein durchlässiges Fenster in die Kammerspiele!“
Solcherart Vision für einen Raum mit Schaufenster direkt auf die Maximilianstraße, stimmt mich froh und etwas wehmütig zugleich. Jahrzehntelang habe ich die Notwendigkeit einer Schnittstelle zwischen Sub- und Hochkultur, im Sinne wechselseitiger Impulsgaben beschworen, so oft und ebenso vergeblich, dass ich mich mitunter selbst zu schwadronieren wähnte…
Jetzt nicht mehr! Inzwischen steht eine neue Generation Kunstschaffender auf der Matte und hat die oft blutleere Kopflastigkeit ihrer VorgängerInnen mit einer guten Dosis Multikulti und Diversität infiltriert und wiederbelebt!
Den stimmigen Soundtrack zum Abend lieferte das Duo „Wintus“, mit Sezgin Inceel, Gesang. „Er ist Musikpädagoge und Musiker, mit den Schwerpunkten Transkulturalität, Musik-Mehrsprachigkeit-Beziehungen und Community Music. (…)„
Für mich als Kunstschaffende kommt dieser Wechsel zu spät, nicht aber für mich als Zuschauerin! Es gibt an allen Ecken und Enden der Münchner Kulturszene jetzt Neues zu entdecken und das nicht nur in Schwabing. Denn Schwabing ist und war schon immer überall dort, wo Menschen keine Furcht davor haben, ihre überbordende Kreativität mit einem guten Schuss Anarchismus zu versehen und unbekümmert auszuleben!
Diese Eigenschaften treffen seit jeher auf einen der Gäste der Preisverleihung zu, ein veritables Urgestein der Schwabinger Künstlerszene: Michael Heininger!
Mehr Schwabing als dieser produktive Cartoonist verkörpert, geht nicht!
Typischerweise verewigte er vor einiger Zeit Personen des Öffentlichen Lebens auf Frottee und stellte sie im Schwabinger Galerini unter dem vielsagenden Titel > ‚Waschlappen“ aus…
Auch Heininger erhielt 1982 die begehrte Schwabinger Trophäe, in der Kategorie „Malerei und Grafik“. Ausgezeichnet wurde er damals gemeinsam mit anderen großen Namen der Szene, namentlich der Blues-Barde Willy Michl (Musik) und die Schauspielerin Marianne Sägebrecht. Zwar ist Willy Michl längst Isar-Indianer und auch Michael Heininger wohnt nicht mehr in Schwabing, doch Utopien sind ja mobil… 😉
Epilog:
ER wird fehlen: Thomas Niederbühl war europaweit erste Politiker, der die queere Community in einem Stadtrat vertreten hat – ein Alleinstellungsmerkmal, das leider bis heute gilt. Ersetzten wird ihn als Spitzenkandidat der Rosa Liste, die den GRÜNEN angegliedert ist, der Journalist Bernd Müller.
Da bleibt nur zu hoffen, dass Thomas Niederbühl der Kulturszene als gelegentlicher Besucher bei Events wie dem Schwabinger Kunstpreis erhalten bleibt. Und mir dabei weiterhin den einen oder anderen seiner Schnappschüsse für meine Blogbeiträge überlässt, wie auch diesmal wieder 😉
Von Herzen alles Gute, lieber Thomas Niederbühl!
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Veröffentlicht von Gaby dos Santos
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