40 Jahre AIDS aus Münchner Perspektive: Rückschau zum Welt Aids Tag 2021, mit Foto-Material der Stadträte Christian Vorländer (SPD) und Thomas Niederbühl (Rosa Liste/Die GRÜNEN) sowie Präsentation des Dokumentarfilms von Jobst Knigge „40 Jahre Aids – Wir leben noch – Schweigen=Tod“

Eine einzigartige Zeitspanne sexueller Freizügigkeit war unserer Generation vergönnt, nachdem die Jugendbewegung einen Schlussstrich unter der bis dato gesellschaftlich zelebrierten Prüderie gezogen hatte. Davon machte auch ich reichlich Gebrauch. Bedenkenlos. Gedankenlos mitunter. Schließlich gab es ja die Pille zur Verhütung. Doch plötzlich, aus dem Nichts, belastete ab Sommer 1981 eine neue Krankheit, AIDS, die gerade erst erkämpfte Freie Liebe und die Leichtigkeit, mit der sie praktiziert worden war. Panik trat an ihre Stelle, wodurch sich für gewisse konservative politische Strömungen, insbesondere in Bayern, ungeahnte Möglichkeiten eröffneten. Insbesondere die damals scheinbar opportune Gelegenheit, sich wahlwirksam als Garant für Law and Order zu profilieren, gepaart mit entsprechender Rhethorik:

„Promiskuität ist der Motor der Seuche und jetzt den Leuten zu sagen: ‚Macht nur so weiter Euer lasterhaftes Sexualleben, macht alles weiter, nur zwischendrin ein kleines Kondom benutzen‘, das ist mit Sicherheit der falsche Weg.

Peter Gauweiler, Staatssekretär für Inneres Bayern, 1986 – 1990

Zunächst hatte sich die Epidemie in der US-amerikanischen Schwulenszene ausgebreitet und wurde daher auch unter dem Namen „GRID“ bekannt: „Gay related immun deficiency“, mit der Folge, dass sich Teile der internationalen Politik und Öffentlichkeit zunächst auf die Homosexuellen einschossen.

Es war eine beispiellose Kampagne: Aus Angst vor der neuen Krankheit AIDS machten Münchner CSU-Politiker in den frühen achtziger Jahren Stimmung gegen Schwule. Die Szene sollte zerschlagen, Infizierte verhaftet werden.“ (…)

Guido Vael, Pionier der Schwulenbewegung, Zitat von 2008, im Magazin SPIEGEL HISTORY

Vael organisierte damals den Widerstand gegen die bayerische Staatsregierung „Kondome statt Pogrome“ und gründete 1984 die Münchner Aidshilfe. Zudem zählt er zu den MitbegründerInnen der Rosa Liste, die bis heute die Interessen der LGBTQI-Communitiy im Münchner Stadtrat vertritt. Im SPIEGEL HISTORY Beitrag erläutert der Aktivist:

(…) Den Umgang mit Aids empfanden wir zu diesem Zeitpunkt als einen Angriff auf unseren Lebensstil und fürchteten eine neue Pogromstimmung.

(…) Er (Gauweiler) sagte uns wortwörtlich, dass sein Ziel sei, die Schwulen-Infrastruktur zu zerschlagen. Er ließ die ‚Spinne‘ schließen, ein Transvestielokal, und eine Sauna. Dann wurde vorgeschrieben, dass es in Saunen keine Einzelkabinen geben durfte, die Türen mussten alle offen bleiben, die Lichtstärke der Beleuchtung wurde festgelegt. Ein Lokal, in dem Pornofilme liefen, musste immer um ein Uhr schließen (…)

Guido Vael, Pionier der Schwulenbewegung, Zitat von 2008, im Magazin SPIEGEL HISTORY

Allerdings war Peter Gauweiler keineswegs die einzige politische Stimme, die AIDS zur Stigmatisierung und Ausgrenzung Homosexueller instrumentalisierte:

Wenn man für die homosexuelle Szene ein Verständnis hat, darum geht es doch nicht, sondern es geht darum, dass man klar machen muss, dass es contram naturam ist, also naturwidrig und im Grunde in ein krankhaften Verhalten hineingeht. Wir müssen endlich wieder den Schutz der Vielen in der Bevölkerung als zentrales Ziel im Auge sehen und nicht uns nur darum bewegen, wer am Rand noch besser verstanden werden kann.

Der Rand muss dünner gemacht werden, er muss ausgedünnt werden.“ (…)

Statement von Hans Zehetmair, 1987, damals Staatsminister für Unterricht und Kultus in Bayern

Gegen diese Art von Holzhammer-Methoden zur Bekämpfung von AIDS sprach sich hingegen Rita Süßmuth aus, nachdem sie 1985 Bundesgesundheitsministerin geworden war, hielt sie sogar für kontraproduktiv:

Wir sagen „nein“ zur Meldepflicht, weil das Ziel, die Ausbreitung der Krankheit  zu bekämpfen, durch die Meldepflicht – und das zeigen die Länder mit Meldepflicht, nicht erreicht, sondern eher verhindert wird.  (…)

Statement von Rita Süßmuth, zu ihrer Zeit als Bundesgesundheitsministerin 1985/86

Sie war sich sicher, dass die Aids-Debatte die Bundestagwahl 1987 entscheiden würde. ‚Die Auseinandersetzung wurde in einer Schärfe geführt, dass wir nicht wussten, ob wir diesen Kampf gewinnen.‘ Süssmuth lud deshalb internationale Wissenschaftler zu einem Geheimtreffen ins Bundeskanzleramt ein. Sie hoffte, mit dieser Unterstützung das Kabinett davon zu überzeugen, dass Prävention der richtige Weg sei, um auf die Seuche zu reagieren. Ihre Strategie war erfolgreich. Der politische Kulturkampf war fürs Erste gewonnen, der Krieg damit aber keineswegs zu Ende.“ (…) MAGAZIN HIV: Die Geschichte eines Kampfes

Süßmuth, stand als Gesundheitsministerin von Anfang an in engem Austausch mit den deutschen Aidshilfen und setzte auf eine bundesweit umfassende Aufklärungskampagne, die sich nachhaltig bewährt hat, wie aus den Statistiken hervorgeht, die Deutschland als das Land mit der niedrigsten AIDS-Rate weltweit ausweisen.

Dank der aufklärenden Maßnahmen wurde der breiten Bevölkerung bewusst, dass das HIV-Virus nicht nur Homosexuelle, Bluter und Fixer bedroht, sondern die gesamte Gesellschaft und erfuhr, wie man sich erfolgreich schützen konnte.

Arzt Dietmar Schranz, in der Dokumentation „40 Jahre AIDS – Schweigen = Tod“ von Jobst Knigge

Dietmar Schranz, Arzt und Homosexueller berichtet davon im Dokumentarfilm 40 Jahre AIDS – Schweigen = Tod. „Die Idee war: Wir versuchen nicht, Panik zu machen, wir versuchen die Leute zu informieren, ihnen zu sagen, wie sie sich schützen können.  (…) Es gibt Möglichkeiten, trotz AIDS, erfüllten Sex zu haben.“ (…)

Foto aus einer der zahllosen Anti-AIDS-KAMPAGNEN

Möglichkeiten sich zu schützen gab es also, obgleich es keine Garantien dafür gab, dass sich die Jugend auch entsprechend umsichtig verhalten würde. Leider signalisieren in jungen Jahren die Hormone mitunter „alles Walzer“ – auf Kosten des eigentlich doch so dringend angesagten Safer Sex. Man(n und Frau) vergisst sich möglicherweise für einen kleinen, aber fatalen Moment …

Es gab so manches heftige Erwachen nach einer ungeschützten Liebesnacht, gefolgt von Zittern und Beben bis zum Ergebnis des AIDS-Tests, innerhalb der heterosexuellen Bevölkerung ebenso, wie in der schwulen Community …

Gaby dos Santos im Rückblick

Doch am stärksten betroffen blieb die schwule Community.
In der Dokumentation von Jobst Knigge resümiert ein Zeitzeuge sinngemäß:

Jahre meines Lebens jede Woche auf einer Beerdigung,
das hat mich traumatisiert.

In der Tat galt AIDS Ende der 1990er Jahre als die viert häufigste Todesursache weltweit. Vor allem in Afrika grassierte die Seuche, nicht nur auf Grund der dort weit verbreiteten, prekären Verhältnissen, sondern auch, weil AIDS in Afrika besonders tabuisiert wurde. Bald bestätigte sich dort auf tragische Weise: Schweigen = Tod

Bei einem HIV-Aids Workshop, Sambia, Südliches Afrika (© Sandra Albers)
Zentrale für Politische Bildung > „Im Kampf gegen HIV/Aids„, 2005

„Nicht so dolle“ sei unsere Solidarität mit den Menschen in Afrika gewesen, kritisiert einer der ZeitzeugInnen rückblickend im Film. Ein Vorwurf, den sich unsere privilegierte Welt kollektiv gefallen lassen muss …

Foto aus dem Film von Jobst Knigge

Afrika schien schließlich weit weg und hierzulande kam irgendwann eine Pille auf dem Markt, deren Einnahme ein normales Leben erlaubt. Problemlos zugänglich ist dieses Medikament jedoch nach wie vor nur dem privilegierten Teil der Menschheit. Und der sollte besser einen Blick über den Tellerrand riskieren:

Die Hypothese, dass sich die gefürchtete Corona-Mutante Omikron in einem durch HIV immunlogisch geschwächten Organismus gebildet haben könnte, zeigt, selbst wenn sie widerlegt würde, dass uns das berühmte Reiskorn anderweitig eben doch viel angeht, sehr viel mehr, als wir uns gemeinhin bewusst machen … Geografisch wie historisch zu verdrängen erscheint mir unter diesem Aspekt keine gute Idee!


Die AIDS-Schleife:
Licht-Installation auf dem Odeonsplatz, 1.12.2021

AIDS nicht vergessen,
unsere Toten nicht verschweigen
!

lautet zu recht das Motto auf dem Banner der Münchner Aidshilfe, das alle Jahre wieder auf beim Gedenkmarsch entrollt wird, bzw. aktuell, wegen Corona, nur auf dem Odeonsplatz (s. Titelmotiv).

Ein weiterer Grund, der die Erinnerung an das große Sterben in den ersten Jahrzehnten der AIDS-PANDEMIE nicht nur für die Hinterbliebenen unverzichtbar macht, ist der oben, anhand von Politiker-Zitaten, beschriebene Umgang mit dem HIV-Virus und dessen Opfern in den 1980er Jahren. Damals zeigten Vorurteile und Angst eine ihrer besonders hässlichen Fratzen!

Wie eingangs dargestellt, versuchten konservative Teile der Politik, diese Stimmung zu nutzen, um alternative Lebensweisen zu stigmatisieren und bestimmte Gesellschaftsgruppen ins Abseits zu drängen. Diese Art von Verhalten empfinde ich im Rückblick als geradezu menschenverachtend und das Gegenteil von barmherzig, insbesondere für Parteien, die sich über das „C“ im Namen definieren möchten. Zudem aber suggerierten solcherart politische Statements, dass das HIV-Virus nur Menschen mit einem lasterhaften Lebensstil infiziere. Eine gefährliche Fehldarstellung, die ohne das beherzte Eingreifen von Rita Süßmuth noch viel mehr Menschenleben hätte kosten können und zwar überall in der Gesellschaft.

Darüber hinaus sollten wir nicht vergessen, dass gar nicht so weit weg von uns, im Osten Europas, teilweise sogar in der EU, weiterhin die Marginalisierung der LGBTIQ-Communities vorangetrieben wird. Die Bilder und Szenen, die der Film dazu aus Russland präsentiert sowie die Aussagen des russischen Aktivisten links im Bild (Foto aus dem Film), erschüttern.

40 Jahre Aids – Schweigen = Tod
Deutschland, 2021, WDR, Regie; Jobst Knigge

Info-Text zum Film: „40 Jahre Aids – das ist die Geschichte von Tod und Überleben, Ausgrenzung und Hoffnung, von schweren Niederlagen und großen Erfolgen im Kampf gegen einen globalen Virus. Die Epidemie zeigte sich 1981 zunächst als „Schwulenseuche“ und wurde schnell zu einer massiven Bedrohung. Betroffene, Überlebende und Ärzte erzählen von 40 Jahren HIV, von einem Virus, das noch immer da ist.

40 Jahre Aids – das ist die Geschichte von Tod und Überleben, Ausgrenzung und Hoffnung. Zu Beginn schien eine HIV-Infektion der sichere Tod. Als Anfang der 80er Jahre die ersten Patienten in San Francisco, Paris oder Berlin an hohem Fieber, Lungenentzündung und Pilzinfektionen erkrankten, waren die Ärzte ratlos. Die meisten Betroffenen waren homosexuelle Männer, doch woran sie erkrankt waren, wusste man nicht. Panik vor Ansteckung machte sich breit.

Barbie Breakout klärt heute über Aids auf, Foto aus dem Film von Jobst Knigge

Fieberhaft forschte die Wissenschaft an Medikamenten und einem Impfstoff. HIV und Aids wurden zum Schreckgespenst einer ganzen Generation. Als man die Übertragungswege des Virus kannte, gab es auch erste Medikamente, die aber nicht heilten. Sie und aufwendige Aufklärungskampagnen zeigten ihre Wirkung in der westlichen Welt. Die Krankheit verlagerte sich nach Asien und Afrika und forderte dort Millionen Tote.

Der Film zeigt die Erfolge, aber auch fatale Fehler und tödliche Niederlagen. Damals eine Geschichte vom Sterben, ist sie heute eine vom Überleben. Viele der ersten Aids-Kranken wurden zu Opfern fehlgeschlagener medizinischer Therapien. Aber auch Ärzte und Wissenschaftler scheitern bis heute an der Erforschung von Medikamenten. Aids ist eine Blaupause für den Umgang mit einer globalen Epidemie.

Viele haben vergessen, was Aids bedeutet. Diese Dokumentation erzählt davon.



Rote Schleifen. Einmal, wenigstens einmal im Jahr, am 1. Dezember, dem Welt-Aidstag, da sieht man sie noch in größerer Zahl: Die roten Schleifen als Zeichen der Solidarität mit HIV-Positiven und Aids-Erkrankten.

Ansonsten ist Aids unglücklicherweise schon lange kein Thema mehr für viele und aus den Schlagzeilen der Zeitungen verschwunden.“ (…)

Statement von Pfarrer Sebastian Kühnen auf der Homepage von > e-wie-evangelisch.de/e-aidsde

Beim Welt-Aidstag 2021 hielt Pfarrer Kühnen auf dem Odeonsplatz eine bewegende Rede, gefilmt und auf Facebook veröffentlicht von Stadtrat Christian Vorländer/SPD >


https://www.facebook.com/100005205882053/videos/pcb.1842353095948202/603117150897499

Auch ich hatte vergessen, was AIDS einmal für unsere Gesellschaft bedeutet hat, wie sehr es drohte, sie zu spalten. Als ich jedoch auf die Posts von Christian Vorländer und Thomas Niederbühl zum Welt-Aidstag und dessen runden Geburtstag stieß, erkannte ich, dass AIDS, wie auch im Film angemerkt, eine Blaupause für den Umgang mit einer globalen Epidemie darstellt, mit viel Lernpotential, gerade auch was umsichtiges Krisenmanagement à la Rita Süßmuth anbelangt.

Es stellt sich mir zudem, angesichts der homophoben Ausschreitungen im Ausland die Gretchen-Frage, in welcher Gesellschaft wir auf Dauer leben wollen. Die Auswüchse, die anderweitig zutage treten, könnten jederzeit auch hier Verbreitung finden, wenn wir nicht wachsam bleiben … Mit einem Gedenkmarsch einmal im Jahr, fürchte ich, wird es dabei nicht getan sein! Vielmehr gilt es, Diversität und Inklusion aufgeklärt und selbstverständlich zu leben, und das in engerem Austausch als bisher zwischen der LGBT-Community und der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft der Fall war!



Die nächste TV-Ausstrahlung von
40 Jahre Aids – Wir leben noch, Schweigen = Tod:
Montag, 6. Dezember 2021/23.35h, ARD


Es hat sich inzwischen hier in München in den letzten Jahrzehnten einiges getan, nicht zuletzt Dank Aktivisten wie Christian Vorländer und Thomas Niederbühl, der mit der ROSA LISTE eine europaweit einzigartige LGBTQI-Interessensvertretung nachhaltig im Stadtrat installiert hat. Bemerkenswert finde ich auch die Arbeit des Forums Queeres Archiv München, das, unter Vorsitz von Historiker und Archivar Albert Knoll, zur Geschichte der Schwulen und Lesben in München – und darüber hinaus – forscht.


Nachstehend eine verlinkte Übersicht von Beiträgen, die dazu bereits im GdS-Blog veröffentlicht wurden:


Beiträge zum Forum Queeres Archiv München



Veröffentlicht von Gaby dos Santos

GdS-Blog, Bühnenproduktionen (Collagen/Historicals), Kulturmanagement/PR > gabydossantos.com

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