„Morgens um halb fünf kam die Gestapo…“ Zur jährlichen Gedenkwoche an die Deportation der Münchner Sinti & Roma: PROGRAMM 2024 und Zeitzeugnisse

Morgens um vier, halb fünf kam die Gestapo zu uns nach Hause. Schnell, schnell, schnell anziehen und die Mama sollte nur einmal Kleidung mitnehmen für die Kinder, was man halt schnell raffen konnte. In fünf oder 10 Minuten sind wir angezogen gewesen und auf Lastwägen raufgetrieben worden, schnell, schnell, schnell, rauf, rauf, rauf, wir wussten nicht, was los ist …

O-Ton Hugo Höllenreiner; Transkription aus einem Interview auf > RASSENDIAGNOSE ZIGEUNER
Zeitzeuge Hugo Höllenreiner um 1943 und in den 2010er Jahren

…erinnerte sich Sinto-Zeitzeuge Hugo Höllenreiner viele Jahre später an den Moment, an dem das bisherige Leben des 9jährigen ein jähes Ende fand. Eben noch hatte er sich auf die bevorstehende Erstkommunion gefreut, nun blieb der Matrosenanzug ungenutzt im Schrank zurück…

Die Plane des Lastwagens, der vor dem Haus der Höllenreiners gewartet hatte, wurde heruntergelassen und verknotet, die Familie saß im Dunkeln fest. Aber nicht allein! Unter den Insassen befanden sich bereits viele Familienmitglieder. Der Lastwagen fuhr los und hielt wenig später wieder, die Plane wurde aufgeklappt und die Oma von zwei Männern hineingeschmissen, weil sie nicht schnell genug hinaufgekommen war. Sie blieb liegen und jammerte, ihr Bein war gebrochen und alle waren entsetzt. Plane runter, der Lastwagen fuhr wieder an und niemand wusste, wohin. Man konnte nicht hinausschauen, aber die vielen Kurven verrieten, dass es quer durch die morgendliche Stadt ging.

Wesley Höllenreiner steht in der Zufahrt zum Innenhof des Polizeipräsidium, wohin sein Urgroßvater Hugo und die anderen Münchner Sinti und Roma am Morgen des 8. März 1943 in Lastwägen verbracht wurden; Foto: Sigi Müller

Die meisten Leute schlafen noch und merken nicht, was mit uns geschieht …

Zitat aus > Hugo Höllenreiners Biografie „Glaub nicht, wir bleiben hier“ von > Anja Tuckermann

…dachte sich der kleine Hugo.

Zeitzeugin > Ramona Sendlinger und Sinto Musiker Sandor Lehmann stehen im Innenhof des Polizeipräsidiums an jener Treppe, über die auch ihre Vorfahren am 8. März 1943 hinauf in die Sammelzellen getrieben wurden. Dort blieben sie bis zur Deportation nach Auschwitz-Birkenau, am 13. März, interniert; Fotos: Sigi Müller

Als der Lastwagen hielt, der Motor abgestellt wurde und die Männer die Plane öffneten, fanden sie sich im Innenhof des Polizeipräsidiums in der Ettstraße wieder. Als Hugo am Gebäude hinaufschaute, sah er die dichten Eisengitter vor den Fenstern.

Die Höllenreiners: Reminiszenzen aus dem Familienalbum
  • Innenansicht der Ettstraße, fotografiert von Sigi Müller
    siehe auch > Auf Zeitstreife durch das Polizeipräsidium Ettstraße
  • Hugos Geschwister und die Mutter, Sophie Höllenreiner, 2. v. rechts, re. außen Hugo
  • Das große Foto zeigt Hugo Höllenreiners Vater, der in der Wehrmacht diente, bevor alle „Zigeuner“ entlassen und zur Zwangsarbeit verpflichtet wurden;

Weiter ging es nun, durch ein Spalier von Polizisten: Schnell! Weiter, weiter, eine kurze Treppe hinauf, durch eine Gittertür, über Gänge. Hugo verstand nicht, was eigentlich vor sich ging:

Ich hab dann meinen Vater gefragt, in der Zelle oben, warum wir denn überhaupt hier sein mussten. Er antwortete: ‚Ja mein Sohn, das ist, weil wir Zigeuner sind.‘

O-Ton Hugo Höllenreiner; Transkription aus einem Interview auf > RASSENDIAGNOSE ZIGEUNER
[Ende der Passage aus dem Historical > „Nächster Halt Auschwitz“ von Gaby dos Santos]

Der Anblick des kindlichen Zaubers von Josef Maria Schneck ergreift mich nach all den Jahren noch immer, ebenso, wie er mich unverändert traurig stimmt, weil ich um sein Schicksal weiß. Seit der großen Ausstellung zum Holocaust an den Sinti und Roma, 2016, im NS-Dokumentationszentrum, ist dieser kleine Junge zum Symbol für die in der NS-Zeit deportierten Münchner Sinti und Roma geworden. Zurecht, denn dieses alte, leicht beschädigte Bild sagt tatsächlich mehr, als „tausend Worte“ es jemals könnten, über die NS-Verbrechen an der Minderheit der Sinti und Roma aus, verdichtet in dieser Momentaufnahme kindlicher Unschuld, die ausradiert wurde. Daher begleitet der kleine Josef auch die Irrwege der Sinti und Roma in meiner > Trilogie, als omnipräsente Anklage …

Längst ist Josef Maria Schneck auch zum Wiedererkennungsmotiv der Gedenkwoche geworden, die seit 2018 die Landeshauptstadt München alljährlich ausrichtet, in Kooperation mit Münchner Einrichtungen, zusammengefasst in der Arbeitsgruppe „Gedenken an die aus München deportierten Sinti und Roma“, der städtische, staatliche und kirchliche Institutionen sowie gesellschaftliche Initiativen angehören, darunter auch Madhouse München, ein Familienberatungs- und Kulturzentrum für Sinti & Roma, das ich ehrenamtlich begleite.

Die Münchner Gedenkwoche beginnt mit dem Jahrestag der Internierung der Münchner Sinti und Roma-Familien in der Ettstraße, am 8. März und findet ihren Höhepunkt – mit einer mehrteiligen Gedenkfeier – am 13. März, dem Datum ihrer Deportation nach Auschwitz-Birkenau.

Bildersequenz verschiedener Gedenkveranstaltungen am 13. März in München, seit 2018, v.o.li.
  • Ausnahmetalent Sandro Roy spielt bei der ersten Gedenkfeier, am 13.3.2018 auf dem Platz der Opfer des Nationalsozialismus
  • Roberto Paskowski vom Landesverband deutscher Sinti & Roma in Bayern
  • Zeitzeugin > Ramona Sendlinger gedenkt, gemeinsam mit ihrem Mann Harald, auch der 51 von den Nationalsozialisten ermordeten Familienangehörigen
  • Die unteren Fotos von Sigi Müller zeigen zwei der Projektionen, die alljährlich am 13.3., mit Einbruch der Dunkelheit für einige Stunden auf die Fassade des NS-Dokumentationszentrums geworfen werden.


Gedenken an die Deportation der Münchner Sinti & Roma:
Das PROGRAMM 2024


Zwei der Veranstaltungen 2024 finden wieder unter Beteiligung
von Madhouse KULTUR statt:

Do, 14.03.2024, 17.00–19.00 Uhr
Madhouse KULTUR (Landwehrstr. 43)
Workshop mit Ladislava Gažiová



Die Künstlerin aus Prag arbeitet im Auftrag des Kulturreferats der LH München an einem partizipativen Kunstprojekt zur Geschichte und Gegenwart der Sintizze und Romnja in München.

Interessierte, insbesondere Sintizze und Romnja, sind eingeladen an dem Workshop teilzunehmen und Teil des Kunstprojekts zu werden.

Anmeldung:
public-history@muenchen.de




Themaverwandte Beiträge zur Gedenkwoche im GdS-Blog:

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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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