Tat.Ort Auschwitz Birkenau – Eine Spurensuche im Gedenken an die Liquidierung des sogenannten „Zigeunerlagers“ am 2. August 1944

Mit wohl keinem anderen Ort assoziiere ich seit jeher das Grauen des Holocausts stärker, als mit dem Vernichtungslager Auschwitz Birkenau. Als ich jedoch das Gelände zum ersten Mal betrat, am 2. Juni 2023, empfand ich mich als verloren auf weitem Feld. Verloren deshalb, weil man an diesem Tat.Ort vergeblich nach konkreten Spuren sucht, an denen sich all das Schreckliche festmachen – und somit nachempfinden ließe, von dem ich schon soviel gehört und gelesen hatte.

Das Areal von Auschwitz Birkenau erstreckte sich vor mir ins schier Unendliche, sumpfiges Gelände, Wiesenabschnitte und Schotterwege, auf denen sich stellenweise backsteinrote Trümmerhaufen befanden.

Nichts verriet auf ersten Blick, dass es sich hier um die Ruinen von Gaskammern und Krematorien handelte, die die Täter noch vor Kriegsende gesprengt hatten. Erst Info-Tafeln klärten auf Polnisch und Englisch auf. Die Sachlichkeit der Texte kontrastierte entschieden mit der Unmenschlichkeit des Beschriebenen, wie beispielsweise die Errichtung von Gaskammer und Krematorium in ein und dem selben, unscheinbaren Flachbau. Dadurch ließ sich ein tödlich effektiver Fließband-Mechanismus zur vollständigen Auslöschung von Menschen erzeugen…

Eine Tafel erläutert ausführlich den Aufbau von Gaskammer und Krematorium, von denen nur Ruinen übrig sind. Davor zu sehen ist Alexander Diepold, Leiter des Familienberatungs- und Kulturzentrums Madhouse München für Sinti und Roma, der diese Studienreise organisiert hatte.

Die Lektüre dieser Tafeln wühlte auf, mich als außenstehende Besucherin und erst recht die Mitglieder der Sinti-Studiengruppe, mit der ich unterwegs war.

Die Studiengruppe Münchner Sinti vor dem Holocaustmahnmal für Sinti und Roma in Auschwitz-Birkenau, am 2. Juni 2023

Sie sahen sich mit einer Vergangenheit konfrontiert, die unmittelbar die eigene Familienchronik betraf!

Allein Ramona Sendlinger (obiges Bild Mitte, mit Sonnenblume) hat über !fünfzig Angehörige im Holocaust verloren!

Foto links: Ein Bild von historischer Symbolkraft: Zwei Mitglieder unserer Sinti-Reisegruppe vor einem Stacheldrahtzaun in Auschwitz-Birkenau; Nie wieder!

Irgendwann gelangte unsere Gruppe zu einem Wäldchen und erfuhr, dass es sich nicht um ein beliebiges, sondern um eben jenes Wäldchen handelte, in dem todgeweihte Neuankömmlinge beim Ausruhen fotografiert worden waren, während sie ahnungslos ausharrten, bis sie mit dem Sterben an der Reihe waren.

Nur scheinbar ein gewönliches Wäldchen … Hier warteten die Neuankömmlinge ahnungslos (obiges Foto), bis sie in die Gaskammer geführt wurden. Das Krematorium befand sich gleich daneben (Foto unten); beide Fotos stammen von Info-Tafeln vor Ort

Über uns zeigte sich der Himmel anstandshalber im Grau jenes Rauches, der ihm einst Tag und Nacht aus den Krematorien entgegenquoll.

Ringsum auf dem sumpfigen Gelände verteilen sich kleine Gewässer. Bei manchen handelt es sich um künstlich angelegte Wasserbecken (s. Foto links), andere sind natürlichen Ursprungs. In diese Gewässer wurden vielfach die menschlichen Aschen aus den Krematorien entsorgt, insbesondere in einen kleinen Teich, der unmittelbar an das Gelände von Krematorium V angrenzt (s. nächstes Foto)

Unter meinen Schritten und denen der Millionen Besucher, die vor mir kamen und nach mir noch kommen werden, ruhen viele weitere Holocaust-Opfer, in anonymen Massengräbern… Die historischen Bilder der Leichenberge sind ikonisch, doch lässt sich vor Ort zu nur sehr schwer ein Bezug zu ihnen herstellen.

Durchschnitten wird das Areal von Gleisresten der Deportationszüge. Die führen heutzutage in das Nirgendwo des Geländes, damals führten sie fast immer in den Tod. Der erscheint hier allgegenwärtig, eben weil er nicht fassbar ist, obgleich die ganze Welt inzwischen um das Sterben an diesem Ort Bescheid weiß.

Nur gut daher, dass die Weitläufigkeit des Geländes die Besucherinnen und Besucher zu einem Rundgang zwingt, dessen Länge mich irgendwann in eine Art kontemplative Erschöpfung versetzte: Über Bauch und Sinne ließ sich das apokalyptische Phänomen „Auschwitz-Birkenau“ zumindest ansatzweise erfassen, im Gegensatz zu den diesbezüglich eingeschränkten sprachlichen Möglichkeiten… Deshalb habe ich auch über ein Jahr lang immer neue Versuche gestartet, meine Eindrücke von Auschwitz in ein verbales Korsett zu zwängen, mit mäßigem Erfolg. Vermutlich verlangt dieser Tat.Ort vorrangig danach, erfühlt statt beschrieben zu werden.

Für den historischen Part stehen mittlerweile die erschütternden Zeugnisse Überlebender zur Verfügung. Meist waren sie, wie auch die Angehörigen anderer Opfergruppen, erst nach Jahrzehnten überhaupt in der Lage, von ihrem Leidensweg im Holocaust zu berichten, der sie alle dauerhaft, sowohl seelisch wie auch gesundheitlich, zeichnete.

Deren Traumata wirken bis heute in die nachfolgenden Generationen hinein: Insbesondere die unmittelbaren Nachkommen lebten und litten noch im Schatten des Holocaust, als Kinder zutiefst traumatisierter Eltern, in einer damals noch immer bedenklich antiziganistisch eingestellten Gesellschaft.

„Für unsere Kinder sind die schrecklichen Geschichten von Auschwitz normal, sie wachsen damit auf,“

… erklärte mir meine Freundin Laura Höllenreiner. Deren Sohn Wesley liest in meiner Sinti und Roma Trilogie aus den Memoiren seines Urgroßvaters Hugo Höllenreiner, der als 9jähriger mit seiner Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Einige der Schilderungen waren mir zu grausam erschienen, um sie einen damals erst 11jährigen lesen zu lassen…

Foto Sigi Müller
Wesley Höllenreiner, Ur-Enkel des Sinto Hugo Höllenreiner, der mit neun Jahren, links im Bild, nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Der Weg ins Vernichtungslager führte durch die Tür dieses Innenhofs im Polizeipräsidium Ettstraße. Oben rechts ist Hugo in späteren Jahren zu sehen, in denen er sich vorbildlich als Zeitzeuge engagierte. In München und Ingolstadt werden daher jetzt Straßen nach ihm benannt.

Dass die Familie Höllenreiner überhaupt noch besteht und sich inzwischen bis in die vierte Generation hinein aufklärend engagieren kann, ist dem Aufstand am 16. Mai 1944, im sogenannten „Zigeunerlagerlager“ geschuldet. :

Da die Lagerleitung eine Ausbreitung der Unruhen fürchtete, veranlasste sie die Verlegung eines Teils der Häftlinge in andere Konzentrationslager.

S. rechts die verlinkte Vorschau zum Blogbeitrag >

Wer in Auschwitz-Birkenau verblieb, war dem Tod geweiht: Innerhalb einer einzigen Nacht, vom 2. auf den 3. August 1944, ermordete die SS alle noch im sogenannten „Zigeunerlager“ von Auschwitz-Birkenau verbliebenen 4300 Frauen, (vorwiegend alte) Männer und Kinder.

„Die Sinti haben sich auch gegen die „Liquidierung“ des „Zigeunerlagers“ zur Wehr gesetzt. Das war eine ganz tragische Geschichte. Da haben die Sinti aus Blech Waffen gemacht. Sie haben die Bleche zugespitzt zu Messern. Damit und mit Stöcken haben sie sich bis zum Äußersten gewehrt. Ich kenne eine Augenzeugin, eine Polin, Zita hieß sie, die bei uns gegenüber im Arbeitseinsatz war, die hat die Auflösung des „Zigeunerlagers“ miterlebt. Sie hat mir später unter Tränen erzählt, wie sich die Sinti so verzweifelt geschlagen und gewehrt haben, weil sie wussten, dass sie vergast werden sollten. Und dann wurde dieser Widerstand mit Maschinenpistolen niedergeschossen […]“

Zitat: Elisabeth Guttenberger, Zeitzeugin und zweitweise im sogen. > „Zigeunerlager“ inhaftiert

Nachkommen und lange Zeit insbesondere Überlebende, besuchen daher am 2. August den Ort des ultimativen Holocaust-Massakers „ihrer Menschen“ , wie Sinti und Roma selbst ihre Minderheit bezeichnen, um den Toten die Ehre zu erweisen. Ohne Rücksicht auf eigene Befindlichkeiten. Meine Freundin Uta Horstmann, eine unermüdliche Aktivistin und langjährige Zuständige für Sinti und Roma beim Sozialreferat der LH München erinnert, dass man sich bei diesen Gedenkfeierlichkeiten stets Sorgen um die zum Teil hochbetagten TeilnehmerInnen gemacht habe: Während der Veranstaltung in Auschwitz Birkenau seien sie regelmäßig der hochsommerlich prallen Sonne ausgesetzt gewesen. Dennoch hätten sie sich aus Respekt vor dem Ort und den Toten geweigert zu trinken

…schließlich habe man als Häftling auch den ganzen Tag über nichts zu trinken bekommen…“

Der Zuschauerbereich in Auschwitz-Birkenau, am 2. August 2019, zum 75. Jahrestag
In der Mitte, im gestreifen Sakko, Peter Höllenreiner, Hugos Bruder; Foto: Maria Anna Willer, in ihrer Reportage „Stimmen

Inzwischen sorgt glücklicherweise eine Zeltplane für die Überdachung der Sitzreihen. Zu spät für viele der AugenzeugInnen. Mit ihrem Aussterben wird die jährliche Gedenkveranstaltung am 2. August umso wichtiger. Daher erklärte man dieses Datum 2015 offiziell zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma:

(…)
Am 2. August gedenken wir der letzten 4.300 Sinti und Roma des Deutschen NS-Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau, die in dieser Nacht des Jahres 1944 trotz erbittertem Widerstand von der SS ermordet wurden.

In Erinnerung an die insgesamt 500.000 Sinti und Roma, die im nationalsozialistisch besetzten Europa ermordet wurden, erklärte das Europäische Parlament 2015 diesen Tag zum Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti 
(…)“

www.roma-sinti-holocaust-memorial-day.eu
Seit 2015 ist der 2. August offizieller
Europäischer Holocaust-Gedenktag für Sinti & Roma > LINK

Auch in diesem Jahr haben sie überall in Europa ihre Koffer gepackt und sich auf den Weg nach Polen gemacht, die Sinti und Roma, Reisenden und Jenischen, für die Auschwitz-Birkenau auch die Funktion eines überdimensionierten europäischen Zentralfriedhofs erfüllt, wo sie, zumindest symbolisch, ihrer Toten gedenken möchten, obgleich sie danach oft seelisch und körperlich ausgebrannt heimkehren.

Meine Freundin Laura Höllenreiner rief mich nach ihrer Rückkehr von den Gedenkfeierlichkeiten tagelang nicht zurück, was bei ihr normalerweise nie vorkommt. Als ich sie schließlich erreichte, seufzte sie:

Ich bekomme dieses Auschwitz nicht aus dem Kopf!

Außerdem vermisse sie ihren mittlerweile verstorbenen Großvater Hugo, der sie bei ihrer letzten Auschwitz-Reise noch begleitet hatte. Sie habe viel weinen müssen, die letzten Tage, und auch ihr Sohn Wesley, der Auschwitz zum ersten Mal besucht hatte, sei fix und fertig…

Hugo Höllenreiner rechts (ca. 2013) mit Enkelin Laura und Urenkel Wesley

Angesichts solcherart Äußerungen erübrigt sich jede Debatte darüber, ob man nicht endlich die Vergangenheit ruhen lassen sollte. Unter den Betroffenen dürfte sich kaum jemand finden, der ist seelisch soweit wäre. Auch nicht nach 80 Jahren! Zu schwer wiegt, was geschah, in den kollektiven Erinnerungen der Opfergruppen.


Auschwitz warst du die Hauptstadt der Welt? 

Nachts, wenn Dich die Dunkelheit umhüllt,
erheben wir uns aus den Gräbern.
Das Schicksal damals ließ uns nicht die Zeit 
zum Wehklagen auf den Todesfeldern.

Umgeben warst du von brauner Macht,
hast Tausenden von uns den Tod gebracht.
Wir wollen keine Rache und klagen nur an,
was uns die Menschheit hat damals angetan. 

Vergessen, das geht nicht, 
dafür ist zu viel passiert. 
Wir Tote, wir reden 
als wären wir heute erst krepiert. 

Wir erzählen von Nummern
in unseren Armen eingebrannt,
von Menschen ohne Namen,
gestorben in diesem unbekannten Land. 

Wir erzählen von Frauen und Kindern,
erschlagen und verbrannt.
Die Schornsteine sie rauchten 
eine Ewigkeit lang. 

Wir erzählen aber auch von den Teufeln in
Menschengestalt,
sie träumten von dir als Hauptstadt 
im ewigen Dritten Reich.

Nachts, wenn die Stunde beginnt,
erhebt sich unsere Asche aus irgendeinem Feld
und stellt sich die Frage: 
Auschwitz warst du die Hauptstadt oder gar das Ende der Welt?


Eine Frage, keine Antwort,
doch wir geben keine Ruhe,
denn dieses Kapitel der Geschichte 
ist für uns niemals zu.  

> Stefan Horvath



Titelbild: Ausgangsfoto und Collage stammen von Gaby dos Santos


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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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