Fotokunst in retrospektiver Fülle: Milly Orthens Langzeitzyklus „Sinti & Roma, gestern und heute“: Bis 19.12.2025 in der Volkshochschule München Neuhausen (Neuhauser Trafo) zu sehen

Als Kind habe sie die Lebensweise der Sinti und Roma derart fasziniert, dass sie sich mitunter wünschte, von ihnen entführt zu werden,​ „denn ‚Zigeuner‘ „ – so nannte man diese Volksgruppen damals noch gemeinhin – „…klauen Kinder“

Mit dieser Reminiszenz eröffnete am 25. Oktober 2025 die Fotografin Milly Orthen (DGPh) in der Volkshochschule München Neuhausen ihre Ausstellung „Sinti und Roma, gestern und heute“. Dem Titel entsprechend spannen Orthens Exponate einen zeitgeschichtlichen Bogen von den frühen 1980er Jahren bis in die Gegenwart.

In schwarz weiß gehalten sind die frühen Motive, in Farbe die aus der Gegenwart, wobei beide Reihen gleichermaßen durch ihre fotografische Wucht bestechen, die nicht zuletzt dem engen Bezug zwischen dem Thema und dem Werdegang Künstlerin selbst zu verdanken ist:

Eine ältere lächelnde Frau mit blonden Haaren, die ein blaues Oberteil trägt, sitzt auf einem Stuhl und hält ein Dokument in der Hand. Sie wirkt freundlich und aufmerksam.
Milli Orthen, Foto: GdS, 25.10.25

1980 kam Milly Orthen, das doch nicht von den „Zigeunern“ gestohlene Kind (Sarkasmus Ende), erstmals mit deren Lebenswirklichkeit in Berührung. Die lag damals – im Widerspruch zu ihrer Verklärung als „lustiges Zigeunerleben“, derart im Argen, dass eine Gruppe deutscher Sinti, darunter Holocaust-Überlebende, in der Versöhnungskirche der KZ-Gedenkstätte Dachau in einen Hungerstreik trat. Der sorgte weltweit für Schlagzeilen und wurde für Milly Orthen zum Initialerlebnis, das zu dokumentieren ihr jedoch zunächst verwehrt blieb. „Jetzt erst recht“ beschloss daraufhin die junge Fotografin und dokumentierte in den folgenden Jahrzehnten Alltag, Aktivitäten und Gedenkveranstaltungen der Community; dito Schlüsselmomente ihrer Bürgerrechtsbewegung, wie das Treffen des jüdischen Aktivisten Simon Wiesenthal mit dem charismatischen Romani Rose, dem späteren Vorsitzenden des Zentralrats deutscher Sinti und Roma, 1981, am Rande des 3. Weltkongresses der Sinti und Roma in Göttingen.

Schwarzweißfoto von zwei Männern, die auf einer Straße entlanggehen, mit historischen Gebäuden im Hintergrund.
Simon Wiesenthal mit Romani Rose , 1981 fotografiert von Milly Orthen beim 3. Weltkongress der Sinti und Roma in Göttingen

Links ein frühes Foto von Milly Orthen, das ein Sinti-Mädchen vor der Notunterkunft in der Kranzberger Allee zeigt, damals ein Münchner Stellplatz für Sinti und Roma, unmittelbar am Schuttberg aus der Nachkriegszeit gelegen. Das Foto rechts zeigt einen kleinen Besucher bei Millys Ausstellung 1993 im Münchner Rathaus/Kassenhalle.

Aus dieser Zeit stammt auch eine Momentaufnahme der Sozialarbeiterin Uta Horstmann, von Milly Orthen aufgenommen in der Wohnung der Sinti Familie L., im damaligen Münchner Brennpunkt-Viertel Hasenbergl (Foto links unten). Als einzige Frau und Angehörige der Mehrheitsgesellschaft, hatte sich Uta 1980 aus Solidarität dem Hungerstreik in Dachau angeschlossen und dabei Milly Orthen (Foto u.rechts, Mitte) kennengelernt.

Die Begebenheiten, von denen die Exponate der aktuellen Ausstellung erzählen, sind daher eng verwoben mit der Geschichte der Freundschaft zweier Frauen, die sich beide, jede mit den ihr eigenen Mitteln, seit einer gefühlten Ewigkeit für die Belange der Community deutscher Sinti und Roma engagieren.

Da verwunderte es nicht, dass die beiden Freundinnen während der Vernissage, vor und auf der Bühne, so manche Erinnerung aus den 45 Jahren ihres Engagements für die Community, wie auch ihrer Freundschaft Revue passieren ließen.

Zwei ältere Frauen lächeln in die Kamera, während sie bunte Blumensträuße halten. Die Frau links trägt ein gestreiftes Oberteil und Brille, die Frau rechts trägt ein blaues Kleid.
Uta Horstmann, links und Milly Orthen; Foto: GdS 25.10.25

In beinahe einem halben Jahrhundert tut sich schließlich so einiges… 😉

„Weißt Du, Gaby, auf der Vernissage waren einige Besucher, die habe ich schon als Kinder gekannt.“, erzählte mir Uta später, sichtlich bewegt.

Und die hatten wiederum ihre Kinder oder gar Kindeskinder dabei, wie der kleine Mann im Hintergrund des nachfolgenden Fotos oder die hübsche Studentin, vorne rechts, Alicia Delis. Diese ist nicht nur Vorstandsmitglied im Studierendenverband der Sinti & Roma in Deutschland e.V., sondern wiederum die Enkelin von Erich Schneeberger, dem langjährigen Landesvorsitzenden in Bayern des Zentralrats deutscher Sinti und Roma.

Ein Publikum sitzt aufmerksam bei der Vernissage von Milly Orthens Ausstellung "Sinti und Roma, gestern und heute" im Neuhauser Trafo. Die Anwesenden sind älteren und jüngeren Alters und zeigen Interesse an den präsentierten Fotografien.
Konzentriert: Erste Reihe, von li: Uta Horstmann, Milly Orthen mit Partner und Alicia Delis, 2. Vorsitzende im Studierendenverband der Sinti und Roma in Deutschland e.V., lauschen der Musik von Ismael Reinhardt

(…)“Ich bin Alicia Delis und studiere Öffentliche Verwaltungswissenschaften. Bürgerrechtsarbeit war für meine Familie nie nur ein Projekt. Sie war Identität und Verantwortung zugleich.

Im Studium beschäftige ich mich damit, wie Bildungs- und Verwaltungssysteme gerechter und inklusiver gestaltet werden können.

„Bildung sehe ich als Schlüssel zu gesellschaftlicher Teilhabe und Stärkung der Gemeinschaft. (…)“

Zitate von Alicia Delis, 2. Vorsitzende im Studierendenverband der Sinti und Roma in Deutschland e.V.
Quelle: https://studierendenverband-sinti-roma.de/wer-wir-sind/

Eine ältere Frau mit Brille sitzt auf einem Stuhl, trägt ein gestreiftes Oberteil und hat ihre Hände in den Schoß gelegt. Neben ihr steht ein Wasserglas auf dem Tisch. Der Hintergrund ist schlicht, mit einem Vorhang und einem Holzfußboden.
Uta Horstmann; Foto: GdS, 25.10.2025

Noch lange hätte Uta Horstmann über ihre Arbeit und Erfahrungen mit der Community Münchner Sinti und Roma berichten können. Erinnerungen aus einem ganzen Berufsleben und darüber hinaus… So eng hat Uta ihre Biografie mit der von Sinti und Roma verwoben, dass diese ihr bis heute große Dankbarkeit und Ehrerbietung entgegen bringen.

Für ihre außergewöhnliche soziale und menschliche Hinwendung zeichnete man Uta inzwischen und zu Recht, sowohl mit dem Bundesverdienstkreuz, als auch dem Bayerischen Verdienstorden aus.

Ich bin sehr stolz, diesen Menschen eine „Freundin“ nennen zu dürfen…

Aus Zeitgründen sind die meisten von Utas Reminiszenzen diesmal unerzählt geblieben, denn sie würden den Rahmen jeder Vernissage sprengen. Ebenso konnte aus Platzgründen natürlich nur ein Bruchteil von Milly Orthens Fotozyklus‘ „Sinti und Roma – Gestern und heute“ gezeigt werden, doch die Exponate machen definitiv Lust auf mehr – und können noch bis 19.12. besichtigt werden, Eckdaten siehe pdf am Beitragsende.

Ergänzt werden die Fotos durch Texte von Ursula Meisinger und dem Sinti PowerClub, die einen Einblick in das Heute der Community vermitteln.

Die Schwarzweiß-Fotos von Milly Orthen in diesem Beitrag sind nicht Teil ihrer laufenden Ausstellung!

Eine Gruppe von Menschen steht zusammen und lächelt in die Kamera, einige halten Blumen in den Händen. Im Hintergrund ist ein dunkler Vorhang zu sehen.
Gruppenfoto vom 25.10.2025 im Neuhauser Trafo, anlässlich der Vernissage „Sinti und Roma, gestern und heute“: V.l. Dipl. Sozialpädagogin Gudrun Scheringer, Freundin und ehemalige Arbeitskollegin von Uta Horstmann, dazwischen Fotografin Milly Orthen, dahinter Dipl. Sozialpädagogin Susan Cordeiro sowie Alexander Diepold, Leiter des soziokulturellen Zentrums  Madhouse München für Sinti und Roma, davor Gaby dos Santos, rechts daneben Sintezza Ramona Sendlinger, Zeitzeugin mit Ehemann Harald

Titelmotiv: Das Schwarzweiß-Foto links zeigt Corolla, eine Sintezza, die Milly Orthen in den frühen 1980er Jahren aufgenommen hat; der Schnappschuss rechts stammt von Gaby dos Santos und entstand während Milly Orthens Ansprache bei ihrer Vernissage am 25.10.2025, in der Volkshochschule München Neuhausen im Neuhauser Trafo

Weitere Beiträge zu „Sinti und Roma“ im GdS-Blog:

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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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