Ramona Sendlinger – Momentaufnahmen einer Sintezza, Freundin und Zeitzeugin

Überbordende Lebensfreude und Schwermut sind die beiden Extreme, zwischen denen sich die Gefühlswelt meiner Freundin, Sintezza Ramona Sendlinger abspielt, denn der Holocaust wirft seine langen, bösen Schatten auch auf die nachfolgenden Generationen, wie inzwischen wissenschaftlich nachgewiesen wurde. Ramona bildet da keine Ausnahme. Dessen ist sie sich bewusst und hat gelernt – lernen müssen – mit dieser seelischen Vorbelastung zu leben und sie bestmöglich zu verdrängen, respektive zu reflektieren, wenn sinnvoll.

Sie war daher meine erste Ansprechpartnerin als Zeitzeugin im > Historical > Nächster Halt Auschwitz!, das ich in Kooperation mit Madhouse München, Alexander Diepold produziert habe. Zu Recherchezwecken trafen sich Ramona und ihr Mann Harald mit mir im Novermber 2022 im Theaterlokal KULISSE; Ramona mit einem Stapel alter Fotos unter dem Arm. Sie zeigten Familienmitglieder, von denen viele den Holocaust nicht überlebt haben. Ramonas Familie beklagt insgesamt 51 ermordete Verwandte unterschiedlichster Generationen.

Dieses erste Arbeitstreffen mit Ramona entwickelte sich so kontrastreich, dass es mich in ein Wechselbad der Gefühle versetzte und ein Deja vu heraufbeschwor: „Lachen und Weinen – beinahe ein Fest“, lautete 1994 der Titel einer meiner frühesten Veranstaltungen, die Klezmer und die Shoa an einem einzigen Abend gleichzeitig thematisierte. Weil sich Tragik und Lebensfreude mitunter nicht trennen lassen, letztere aber das Überleben sichert! Ich glaube, so halten es viele Holocaust-Überlebende und deren Nachkommen, oftmals in relativ kurzen Zeitabständen, wie eben Ramona an diesem Nachmittag.

Geboren wurde sie 1952, als Kind eines Sinti-Ehepaares, das diverse Konzentrationslager überlebt hatte, der Vater (rechts auf obigem S/W-Foto) sogar Dr. Mengeles Menschen-Versuche, sein jüngerer Bruder nicht …

Ein nachhaltiges Trauma, das sich belastend auf das Familienleben auswirkte. Hinzu kamen gesellschaftliche Stigmatisierung und jahrzehntelanges Prekariat in Reinkultur. Statt Schulbesuch Betreuung der jüngeren Geschwister, während die Eltern – erfolgreich – dafür schufteten, der Misere zu entkommen. Lesen brachte Ramona Sendlinger sich selbst bei.

Siehe dazu auch im GdS-Blog den Beitrag:

> Vorgeschichte zur Trilogie Sinti & Roma: Elegien einer deutschen Minderheit

Und doch ist Ramona einer der lebensbejahendsten Menschen, die mir je begegnet sind. Kein Wunder, dass sie nach einer Stunde voller traurigster Reminiszenzen gedanklich umschwenkte und sofort Feuer und Flamme war, einen Blick nebenan auf die interkulturelle Spiel- und Begegnungsstätte HABIBI KIOSK der Münchner Kammerspiele zu werfen, als uns Projektleiterin und Regisseurin dazu einluden. Und es wäre nicht Ramona, wenn sie nicht auf diese erste Schnupperrunde gleich weitere Besuche dort hätte folgen lassen, denn sie geht den Dingen voller Wissensdrang gerne bis auf den Grund.

Posen nebenan im Habibi-Kiosk der Kammerspiele München

Ramonas innerliche wie äußerliche Attraktivität haben ihr das Glück einer zweiten, diesmal sehr glücklichen Ehe mit Mitte 60 eingebracht. Harry Sendlinger und sie lernten sich im Rahmen der Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Deportation der Münchner Sinti näher kennen; eine ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals, dass ein NS-Verbrechen im Nachhinein zwei Menschen zusammengeführt hat, deren Verbindung im Nationalsozialismus als Rassenschande verfolgt worden wäre…

Ramona und Harald Sendlinger, 30. November 2022, Theaterlokal Kulisse

Ramona kennengelernt habe ich, gemeinsam mit ihrer Schwester Silvana, links, am 10. Oktober 2016 bei meinem ersten Besuch bei Madhouse München, Alexander Diepolds Familienberatungs- und Kulturzentrum für Sinti & Roma. Die Menschenrechts-Aktivistin Edith Grube hatte uns dorthin zusammengetrommelt.

Ein Gänsehautbild, denn es dokumentiert nicht nur meine erste Begegnung mit Ramona, sondern auch einen Moment spontaner zwischenmenschlicher Wärme und Unbeschwertheit, der sich längst unwiederbringlich verflüchtigt hat … Les Feuilles Mortes lassen in ihrer unaufhaltsamen, melancholischen Vergänglichkeit grüßen 😦

Ramonas Schwester habe ich nie wieder getroffen, da sie nicht in München lebt; zwischenzeitlich wüteten Corona und diverse Zerwürfnisse, so dass auch mein Kontakt zu Edith Grube abgebrochen ist. Überdauert hat glücklicherweise meine Freundschaft mit Ramona.

Knapp zwei Wochen nach dem Kennenlernen fand am 26. Oktober 2016 im NS-Dokumentationszentrum eine Ausstellung über Sinti und Roma in der NS-Zeit statt. Ramona, die damals noch „Röder“ hieß, führte mich durch die Ausstellung und beantwortete mir zahlreiche Fragen, denn mit dem Thema „Sinti und Roma“ hatte ich mich bislang kaum auseinandergesetzt. Damals postete ich:

Heute Abend wurde die Ausstellung der Verfolgung von Sinti und Roma im NS-Dokuzentrum eröffnet. Den Abend über hörte ich:“ Ach, schau, da ist ja Onkel Willi!“ Oder: „Das ist ja der Babbo“!

Eine Besucherin lächelte mich an, deutete auf eine hübsche junge Frau, auf einem der Fotos und aufgeregt sagte:“Das ist meine Großmutter…“



Ramona Röder deutete auf ein Foto von KZ-Arzt Mengele und sagte: „So ein schöner Mann und hat so schreckliche Dinge getan. Mein Vater ist auch bei ihm auf dem Tisch gelegen.“ 

Facebook Post/Foto von Gaby dos Santos, 26. Oktober 2016; NS-Dokumentationszentrum in München

Ob bei Gedenkveranstaltungen, z.B. (o.li.) mit Erich Schneeberger, dem Landesvorsitzenden der Sinti & Roma in Bayern, beim gemeinsamen Abfeiern (u. Reihe Mi.) mit Terry Swartzberg im Jüdischen Museum München oder beim > TV-Dreh für PUZZLE, mit Özlem Sarikaya und Alexander Diepold (u.re.)

Ramona Sendlinger ist zu einer festen Komponente meiner kulturpolitischen Aktivitäten geworden…

Ende Mai 2023 luden Alexander Diepold (2.v.re) und Sohn Benjamin Diepold, als Geschäftsführer von Madhouse München, zur Studienreise nach Krakau und Auschwitz, der auch ich (aus Recherchegründen), Ramona und Harry sich anschlossen. Rechts das Ehepaar in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz.

Eine amüsante, herzerwärmende Begebenheit, die so typisch für Ramona war, erinnere ich am Eingang zum Stammlager Auschwitz.

Zu meiner Überraschung sah ich sie dort auf eine Besuchergruppe wie auf gute, alte Bekannte zueilen. Den Schläfenlocken und dem Outfit nach zu urteilen, handelte es sich dabei vermutlich um ultraorthodoxe Juden. Umso mehr wunderte ich mich, wo um alles in der Welt Ramona diese Männer kennengelernt haben könnte. Nirgendwo, wie sich in Folge herausstellte. Sie hatte spontan, sozusagen von Opfergruppe zu Opfergruppe den Schulterschluss gesucht. Damit war sie aber, nach Körperhaltung und Reaktion ihrer offensichtlich unfreiwilligen neuen Bekannten zu urteilen, auf wenig Gegenliebe gestoßen!

Das Foto zeigt Ramona im Stammlager Auschwitz, während sie mit Kopfhörern konzentriert den Ausführungen des Guides folgt.

Ganz anders erging es Ramona in diesem Sommer in den USA, wo sie sich hervorragend mit den IndianerInnen eines Reservats verständigte, von Minderheit zu Minderheit und Ethnie zu Ethnie. Doch in erster Linie kommuniziert Ramona ganz ohne Umschweife, schnörkellos direkt von Mensch zu Mensch, egal welcher Couleur. Ich wünschte, es gäbe mehr von ihrer Art, deren Offenheit hervorragend in mein buntes Wunderland 2.0. passt, und die genau richtige Haltung angesichts der Vergangenheit ihrer und meiner Eltern- und Großeltern-Generation darstellt.

Die Bilderreihe der tanzenden Ramona Sendlinger, 8.1.2024, Mariandl, stammt von Fotografin Barbara Bacher

Wenn Ramona etwas liebt, dann, zu tanzen. Selbstvergessen, egal wo, sobald sie die Musik packt, wie hier beim meinem 30. Bühnenjubiläum im Mariandl, während Sinto-Geiger Sandor Lehmann alte Gypsy-Weisen aufspielt. Auch im motorischen Ruhemodus zeigt sich Ramona unterhaltsam und zugewandt, siehe die beiden nachstehenden Fotos von Sigi Müller.

Ramona und Harry Sendlinger, am 8.1.2024 im Mariandl fotografiert von Sigi Müller


Dass Ramona an meinem Ehrenabend auf keinen Fall fehlen durfte, leuchtet desto mehr ein, je mehr ich an Material für vorliegende „Ramona in meinem Leben“-Retrospektive im Bildarchiv finde. In etwas über sieben Jahren Freundschaft haben wir gemeinsam eine Menge außergewöhnlicher Momentaufnahmen angehäuft! Das verbindet! Zeigt aber auch auf, wie schnell der Sand durch mein Uhrengehäuse gerast ist und noch immer – unaufhaltsam – weiterrast … Was sind schon sieben Jahre …

Bleibt mir bitte noch lange in Freundschaft erhalten, liebe Ramona und Harry 🙂


Weitere Beiträge im GdS-Blog, in denen Ramona Sendlinger (vormals „Röder“) Erwähnung findet

„Ich bin Münchner*in – Ich bin Sint*iza / Rom*ni“: Eine Kampgange der Fachstelle für Demokratie der LH München wirft ein Schlaglicht auf diese weiterhin fast unsichtbare Gruppe von MitbürgerInnen, vorgestellt am Samstag, 16.10./20h, zum Auftakt des „djangoO Festivals of Gypsy Music“, Altes Rathaus

Wie hat man sich eigentlich die typische Kleidung von Sinti vorzustellen ..? Das Publikum im NS-Dokumentationszentrum München wirkte ratlos, als Moderator Alexander Adler uns zu…

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Veröffentlicht von Gaby dos Santos

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