«…BLUTEN TUN WIR ALLE GLEICH!» Acht Jahre nach dem OEZ-Attentat: Impressionen der Gedenkfeier in Fotos, Videos und Zitaten sowie Infos zur Broschüre «Tell Their Stories» (NS-Dokumentationszentrum)
«Wir sind nicht alle reich, aber bluten tun wir alle gleich!»
Nur zwanzig Minuten vor seinem Tod veröffentlichte der 19jährige Sinto Guiliano Kollmann diese Lines in seinem Whatsapp-Status! „Als Gedächtnisstütze für einen späteren Rap-Song“, dachte er.
Stattdessen gerieten diese Worte zu einem bitteren, vorahnungsvoll anmutenden Vermächtnis, denn um 17.50 eröffnete ein Attentäter das Feuer. Dessen Motiv: Fremdenhass und Rassismus!
Gezielt nahm der Attentäter, der ebenfalls gerade erst 18jährige David S., fast ausschließlich AltersgenossInnen ins Visier, die alle einen Migrationshintergrund aufwiesen, sowie zwei Angehörige der Münchner Sinti und Roma Community. Als Tatort hatte David S. einen Stadtteil ausgewählt, in dem diese Bevölkerungsgruppen stark vertreten sind und zudem potentielle Opfer, via Facebook-Post, in einen dortigen McDonalds gelockt.
Das McDonald’s-Restaurant gegenüber dem Haupteingang des OEZ. Hier eröffnete der Attentäter im ersten Stock das Feuer am 22.7.2016; Foto: Wikipedia, Stefan Wust
Seine extrem rechte, rassistische Überzeugungbrachte der Täter nicht zuletzt auch durch das Datum zum Ausdruck, an dem er den Anschlag verübte, auf den Tag genau fünf Jahre nach den rechtsextremistischen Massakern in Oslo sowie auf der Ferieninsel Utøya: Am 22. Juli 2011 hatte dort der fanatische Rechtsextremist Anders Breivig 77 junge Menschen erschossen. Dieser Terroranschlag diente David S. offensichtlich als Blaupause; lange Zeit suchte er für sein Attentat sogar nach einer Waffe des gleichen Typs, mit der die Morde in Norwegen verübt worden waren. > MEHR
«Am 22. Juli 2016 (…) durchbohrte eine Kugel voller Hass dein Herz und nahm dich für immer von mir. (…)»
… beklagt Hacı Dağ, der Ehemann von Sevda, einem von 9 Opfern des Attentats am Olympia-Einkaufszentrum (OEZ); so nachzulesen in Tell Their Stories, einer Broschüre, die das NS-Dokumentationszentrum anlässlich des 8. Jahrestages herausgebracht hat.
In Abdrucken von Reden, Interview-Ausschnitten, Gedichten oder auch in stiller Trauer, die keine Worte findet, erinnern Angehörige an ihre ermordeten Herzallerliebsten. Dabei schildern sie auch, was dieser brutal einschneidende Verlust bis heute für sie bedeutet …
«… mit dem Ziel, neben den Namen, auch die Geschichten der von ihnen geliebten Menschen im kollektiven Gedächtnis zu verankern.
Armela, Can, Dijamant, Guiliano, Hüseyin, Roberto, Sabine, Selçuk, Sevdawurden durch einen rechtsterroristischen Anschlag aus dem Leben gerissen, aus ihren Familien, ihren Freundeskreisen und aus dieser Stadt. Sie waren dabei, Pläne zu schmieden, hatten Ziele erreicht. Sie haben Wünsche und Träume mit ihrem Umfeld geteilt.
In diesem Heft [Hrsg. NS-Dokumentationszentrum München] erzählen die Hinterbliebenen die Geschichten der Opfer, Geschichten, die lange ungehört blieben. (…)»> LINK
Eine dieser Geschichten trug bei der diesjährigen Gedenkfeier am OEZ Alexander Diepold vor, der Leiter von Madhouse, dem Familienberatungs- und Kulturzentrum für Sinti und Roma in München.
Alexander Diepold erinnerte bei der diesjährigen OEZ-Gedenkfeier an Roberto Raffael, in Vertretung von dessen Mutter Karola, die sich in ihrer Trauer von der Öffentlichkeit abgeschottet hat.
Alexander Diepolds Rede kreiste um das tragische Schicksal des 15jährigen Roma Roberto Rafael und die fortwährende Trauer seiner Mutter Karola. Seit dem Tod ihres Sohnes hatte sie sich weitestgehend abgeschottet. Neue Zuversicht spendete ihr erst eine beinahe mystisch anmutende Fügung, die ihr anlässlich eines Besuchs der heiligen Stätten in Jerusalem widerfuhr.
Die vollständige Geschichte / Rede von Alexander Diepold am 22.7.2024 als PDF-Download
«Heute ist auch derRomno Power Club aus München vertreten, eine neue Sinti- und Roma-(Jugend)Bewegung, die gegen Hass und Hetze, gegen jede Form von Rassismus und Diskriminierung eintritt. (…)»
Aus Alexander Diepolds Redeam 22.7.2024
Foto: 22. Juli 2024; Gedenkstätte OEZ-Hanauer Str. Alexander Diepold (2.v.li.) mit den jungen Mitgliedern des Romno Power ClubsMünchen, v.li.: Fernando, Christiano, Jerome
Gisela Kollmann zitierte in ihrer Rede ebenfalls den titelgebenden, letzten Post ihres ermordeten Enkels Giuliano «… bluten tun wir alle gleich», um dann mit Ansagen fortzufahren, die an „Klartext“ nichts zu wünschen übrig ließen: Insbesondere forderte sie im Namen aller Opfer und deren Familien Gehör seitens der Politik, die andernfalls die Gedenkfeier verlassen möge! Ihrer Ansprache war anzumerken, wie sehr der Kampf mit politischen Windmühlen bei ihr Spuren hinterlassen hat, insbesondere die langanhaltende Auseinandersetzung um die Einordnung der Tat.
«In diesem Kontext wiederholt sie die Forderung aller Hinterbliebenen des OEZ-Anschlags, diesen klar in der Öffentlichkeit als …
‚(…) einen der schlimmsten rechtsextremistischen Anschläge Deutschlands der letzten 10 Jahre (…)‘
zu benennen. »
Obgleich zahlreiche Indizien von Anfang an auf eine rechtsextremistisch motivierte Tat hinwiesen, ordneten die Behörden den Anschlag zunächst als reinen Amoklauf ein, eine Interpretation, die so auch bei der Umsetzung des OEZ-Mahnmals in einem Schriftzug übernommen wurde. Erst 2020 gab das Kulturreferat in München bekannt, dass der Text des Mahnmals nunmehr, entsprechend den Ergebnissen jahrelanger Untersuchungen und Expertisen, angepasst werde. Er lautet seitdem:
«In Erinnerung an alle Opfer des rassistischen Attentats vom 22.7.2016»
Alexander Diepold mit Gisela Kollmann, der Großmutter des ermordeten Giuliano auf der Rednertribüne beim 5. Jahrestag des OEZ-Anschlags.
Doch nicht nur bezüglich der kriminalistischen Einordnung des Attentats tat man sich schwer, sondern auch auf kulturpolitischer Ebene. Als das Mahnmal 2017 eingeweiht wurde, hielt Bayerns damaliger Ministerpräsident Horst Seehofer eine Rede, die in der Community von Sinti und Roma weiteren Unmut und heftigste Kritik auslöste: Wie schon im Vorjahr der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter, betonte Seehofer erneut den «Antisemitismus», den es gelte, zu bekämpfen, ohne jedoch den «Antiziganismus» oder wenigstens den Rassismus mit zu erwähnen, der diesem Attentat zugrunde lag – Starker Tobak für die Betroffenen, bei einem Anschlag, der gleich zwei junge Opfer unter den Münchner Sinti und Roma gefordert hatte! Da stellte sich schon die Frage, welcher Redenschreiber in der Staatskanzlei da wohl seine Hausaufgaben versäumt hatte…
Offizielle Blumenkränze, aber auch ganz persönliche Liebesbekundungen alljährlich an der Gedenkstätte des OEZ-Attentats; Foto: Alexander Diepold, 2024
Auch der Umgang mit den Hinterbliebenen lies seinerzeit zu wünschen übrig. So erinnert Gisela Kollmann, u.a. in einer > Podiumsdiskussion 2022 …
«… wie die Angehörigen von den Behörden im Stich gelassen wurden. Wie unglaublich unsensibel, respektlos und rassistisch die Polizeibeamten in der Mordnacht mit ihr umgegangen seien. Die Beamten trieben es so weit mit der Befragung in der Tatnacht, dass Gisela Kollmann diese aus ihrer Wohnung werfen musste. Kollmann beschreibt auch wie sie versuchte ihren Enkelsohn zu finden, während sie von Wache zu Wache fuhr und immer weiter geschickt wurde:
‚Wir wurden zur Gerichtsmedizin geschickt. Die Familie Rafael war auch vor Ort. Dann wurde gesagt: Der Arzt ist beim Mittagessen, der fängt erst danach an.‘ Das haben sie zu uns gesagt. Zu uns, als Betroffene. (…)»
«… Auch in den folgenden Tagen warteten nicht nur die Kollmanns, sondern auch die Angehörigen aller weiteren Opfer vergeblich auf Mitgefühl, angemessene Anerkennung für ihre Trauer sowie professionelle Betreuung und Unterstützung durch Behörden und Politik.(…)»
«… ist wohl auch gerade im Stadtrat der Beschluss gefasst worden, die Mietkosten für Räumlichkeiten in Moosach zu übernehmen, die künftig als Ort der Zusammenkunft von den Familien der Opfer genutzt werden können und darüberhinaus als Veranstaltungsort, um, als „Antwort auf die OEZ-Tragödie“, Initiativen gegen Rechtsextemismus und Rechte Gewalt zu entwickeln. (…)»
Die Entscheidung käme zur rechten Zeit! Zwar konnte die Initiative „München [OEZ] Erinnern“ seit Januar 2024 einen 35m² großen Raum in der Dienerstraße direkt am Rathaus nutzen.
Ein Raum von und für Angehörige, Überlebende, Hinterbliebene, Freunde, Unterstützende und Interessierte, jedoch galt das nur bis zum 31. Juli 2024.
Das Foto rechts stammt vom Verein und zeigt die zeitweiligen Räumlichkeiten im Münchner Rathaus
«Erinnern heißt sich zu verbünden!» Website Amnesty International > LINK
Ein besonderer Gruß Gisela Kollmanns bei ihrer Rede am 22.7.2024 galt den Hinterbliebenen der Attentate von Hanau, Halle und der NSU, die solidarisch zur diesjährigen Gedenkfeier angereist waren, …
«… vereint in Trauer und im entschlossenen Kampf gegen den Rechtsextremismus in Deutschland!»
So schwer sich Politik und Behörden anfangs auch mit der kriminalistischen Einordnung des Anschlags und dem Umgang mit den Hinterbliebenen taten, so sind inzwischen eine Reihe vielversprechender Weichen gesetzt worden, geeignet, der Tragödie von 2016 Positives für die Zukunft abzuringen!
«Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.»
Die lächelnden Gesichter dieser jungen Menschen anzuschauen, doch gleichzeitig zu wissen, dass sie tot sind, fällt mir heute noch ebenso schwer, wie zum Zeitpunkt des Anschlags. Sehe ich Sevdas Bild, denke ich unwillkürlich sorgenvoll an meine Tochter… Die anderen Portraits zeigen Teenager… und rufen in mir arge Verlustängste hervor: Mein Enkel ist jetzt genau in dem Alter, in dem sie sterben mussten, diese AltersgenossInnen, die einst, wie er jetzt, arglos dem Leben zugewandt waren, das noch keine einzige Linie in ihre Gesichter geprägt hatte.
Manche lächeln ein wenig schüchtern, andere geben sich eher cool, alle eint dabei die gleiche Unsicherheit, auf der Suche noch nach einer eigenen Identität. Dadurch wirken sie unendlich schutzbedürftig auf mich, doch Schutz gab es für sie am Ende keinen, wie es auch keinen für mich, meine Tochter oder meinen Enkel gegeben hätte, wären wir an ihrer Stelle gewesen.
DIESE NEUN hätten auch wir, hätten auch unsere Lieben sein können… Diese Tragödie hätte auch zu unserem tiefsten Schmerz werden können.
Can Leyla (14 Jahre)
Er war ein von allen geliebtes Kind. Verwandte, Freunde, Cousins und alle, die ihn kannten, wussten, wie mitfühlend und gutherzig er war (…) Ein Teil von uns wird immer fehlen (…) Was auch immer wir sagen, es ist zu wenig, unvollständig und halb.
Tragödien wie diese betreffen eben NICHT NUR ANDERE; vielmehr führen sie unser aller Verletzlichkeit vor Augen, mahnen Dankbarkeit und Demut an, angesichts des fortwährenden Leids dem die Hinterbliebenen ausgesetzt sind.
Gisela Kollmann formulierte einmal resigniert in einem Interview:
«Unseren Schmerz kann uns keiner nehmen!»
Das Ehepaar Leyla erinnert an Sohn CAN Gedenkfeier am 22. Juli 2024
Von diesem Schmerz berichtete auch die Schwester von Dijamant Zabërgja in einer Rede, an deren Ende sie aber auch einen Weg in die Zukunft beschwor:
«Wenn man für einen Menschen so viel Liebe verspürt, wie ich sie für meinen Bruder empfinde, man die Liebe aber nicht mehr zeigen kann, dann ist es eine innerliche Qual.»
«Meine persönliche Aufgabe wird es sein, die Erinnerung an Dich am Leben zu halten. Du lebst in uns, Du wechselst nur die Räume, Du lebst weiter und gehst durch unsere Träume.»
Die folgende Rede hielt M. Zabërgja, die Schwester von Dijamant, im Oktober 2016, nur drei Monate nach dem Anschlag am OEZ Zitat aus Tell Their Stories
Dem möchte ich mich gerne, im Rahmen meiner Möglichkeiten. anschließen; als Mensch, Mutter, Großmutter und Münchnerin fühle auch ich mich in die Pflicht genommen, an diese Neun zu erinnern – Denn ja! Auch ich bin «OEZ»…
Plakatausschnitt zu einer Gedenkveranstaltung am 20.7.2024 > LINK
Im Land der Trauer will die Nacht nicht mehr aufwachen. Mond und Sterne haben längst ihr Leuchten eingestellt. Selbst die Schatten gingen in der Finsternis verloren. Schwarze Gräser säumen unseren Weg, den wir nicht sehen. Doch jede Hand, die man uns entgegenstreckt, verwandelt sich in Licht.“
Als „selbstverglorifizierende Geschmatze“ kritisiert Oliver Stey die Reden von Ministerpräsident Horst Seehofer und Oberbürgermeister Dieter Reiter zum Jahrestag des Anschlags…
Der Beitrag beruht u.a. auf umfassenden Recherchen, aus denen zum Teil auch, mit blauen Links gekennzeichnet, zitiert wird.
Die Titelcollage stammt von Gaby dos Santos und beruht auf einem Foto von Alexander Diepold, das den Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter während seiner Rede zu den OEZ-Gedenkfeierlichkeiten 2024 zeigt, Einmontiert wurden Elemente des Mahnmals
Kontakt
Gaby dos Santos in den sozialen Medien mit allein 20.000 Kulturkontakten auf Linkedin!